Produktions Tagebuch zu “Venus in Hanoi” (2004)
“Venus in Hanoi or The Art of Getting Lost”/ National Ballet of Vietnam/ Photos: Doan Bao Chao
Von Maren Witte (Berlin) / Tanzwissenschaftlerin und Tanzdramaturgin / www.tanzscoutberlin.de/
Während der Proben und Aufführungen von “Venus in Hanoi” für das National Ballet Vietnam, Opera Hanoi im September/ Oktober 2004 verfasste Maren Witte das folgende Tagebuch, welches ausführlich Felix’ choreographische Methode und seine Arbeit mit Improvisationstechniken beschreibt.
Tagebuch Ruckert 13.9.
Pretty intense , der erste Tag. Annäherungsversuche. Um kurz nach 9 Uhr komme ich mit Huong vom Goethe-Institut in den Saal der Theaterschule, wo die Proben in den nächsten Wochen stattfinden werden. Ich soll mich kurz vorstellen, Huong übersetzt. Die 25 jungen Vietnamesen wissen jetzt also, dass ich jeden Tag dabei sein werde, um für das Goethe-Institut dieses Tagebuch zu führen. Gleich darauf beginnt Felix mit einem warm-up an der Stange. Für mich ist das ein sehr klassisches Training: Oberkörperrotation, Armführung, Fußarbeit, 1., 2. und 5. Position, Sprünge durch den Raum… Doch Felix weiß: Die hiesigen Tänzer sind in ihrer Ausbildung kaum modernen oder zeitgenössischen Tanz gewöhnt. Er will sie langsam an die Idee der release-Technik heranführen: dass nämlich eine Bewegung, die man mit Kräften ausübt, die eh schon existieren (Schwerkraft, Trägheit), viel einfacher und leichter sind und wirken. Er wird mit den jungen Tänzern üben, in der Entspannung Kraft zu finden. Die Technik will er ihnen aber zunächst anhand ihres gewohnten Trainings nahebringen. Deshalb wird die klassische Arbeit an der Stange uns durch die erste Woche begleiten.
Gegen 11 Uhr beginnt dann eine erste “inhaltliche” Recherche. Doch was meine ich damit, wenn ich sage “inhaltlich”? Was kann die Art zeitgenössischer europäischer Tanz, die Felix Ruckert entwickelt hat, in Vietnam an Inhalten erarbeiten? Und das am ersten Tag? Mit 25 zum Teil sehr jungen Tänzern und Tänzerinnen?
Genau diese Frage hatte ich Felix gestern schon gestellt, als wir uns zum Abendessen mit der Komponistin für die Produktion, Tran Thi Kim Ngoc, trafen. Ich dachte mir bereits, dass es keine handlungsorientierte, narrative Studie geben wird à la “Was wir sehen, wenn wir aus Deutschland kommen und in das Leben Vietnams eintauchen.” So eine Art von Stücken macht zum Beispiel Deutschlands große Choreographin Pina Bausch, aber die Arbeit Felix Ruckerts ist anders. Wie arbeitet er also? Ein Wort hier reicht: abstrakt. Wissen wir jetzt mehr? Eigentlich nicht.
Deshalb will ich berichten, was Felix gestern abend antwortete: Es gehe ihm um die Zahl 5. 5 Teile soll die Arbeit bekommen, jedes ungefähr 15 min lang. Er will den vietnamesischen Stern als kompositorisches Prinzip verwenden: die Linien, die fünf Zacken, die geometrische Raumgliederung, die der symmetrischen Gliederung der Zeit korrespondiert. Der fünfzackige Stern ist ein so altes Symbol (der Lauf der Venus, der Abendstern, das Pentagramm als Teufelssymbol, ein Element der US-Fahne etc.). Es ist somit ein volles und leeres Symbol zugleich: Es nimmt die unterschiedlichsten Bedeutungen an, und deshalb lädt es ein, mit ihm zu arbeiten!
Und was nun haben die Tänzer erarbeitet, als es heute um 11 Uhr losging? Felix sagte zwar nachmittags, es war erst reines Spiel, Annäherungsversuch, zielloses Ausprobieren, doch ich meine: Es war durchaus eine Art, der Stern-Idee ein bißchen nahezukommen: Es gab nämlich folgende Arbeitsanweisung:
Richtungen. Du bist das Zentrum und umgeben von Punkten, die auf Flächen liegen, horizontal und vertikal und diagonal. Denk dir einen Quader, in dessen Mittelpunkt du bist. Jetzt kannst du 9 Punkte ansteuern. Zeige sie, bewege deinen Arm, dein Bein dorthin, und schnippe in die Finger, wenn du am Ziel bist. Sei präzise und bewußt um deine Position, deine Richtung und deine momentane Bewegung. Entscheide dich.
Diese Idee bleibt als Bewegungsprinzip und Bewegungssuche während des gesamten Tages entscheidend. Die Tänzer arbeiten mal allein und ohne Musik, dann wieder allein und mit verschiedenen Musikbeispielen, mal in Paaren auf der Stelle, mal in Paaren durch den Raum, mal in Trios. Die Dynamik nimmt im Lauf des Tages zu, einigen ist anzumerken, daß sie mit jeder Stunde besser verstehen, was ihr Körper tun kann und was Felix von ihnen erwartet. Während in der ersten Tageshälfte Anspannung und starke Körperkontrolle, Fremdheit und Ernst die Körper und Gesichter der Tänzer zeichnet, ist am Ende dieses ersten Probentages manchmal ein gewagter Sprung und ein Fall zu sehen, ein Lachen zu hören oder ein unvorhergesehener Kontakt zu beobachten. Gegen halb 5 löst sich sich Gruppe deshalb recht zuversichtlich auf. Ich sitze im Café gegenüber, als sie sich auf ihre Mopeds schwingen und nach Hause abdüsen. Manche lächeln mir zu, manche winken “bye-bye”. Und ich frage mich: Was wohl aus diesem Projekt am Ende rauskommt?
Tagebuch Ruckert 14. 9.
Vielleicht sollte ich versuchen zu erklären, was ich hier tue. Warum ein Tagebuch? Warum Notizen zu den Proben eines Tanzstücks? Es ist mein wissenschaftliches und privates Interesse an kreativen Prozessen, besonders in gestaltenden Künsten, die im Raum und in der Zeit entstehen und vergehen. Interesse an Kunst, die in Bewegung ist, an Kunst, die Bewegung und Körper als Material hat.
Diese spezielle Arbeit von Felix Ruckert, die hier entsteht, hat neben der beschriebenen generellen Eigenschaft von Tanz noch weitere besondere Facetten, die für mich interessant sind: die politische Dimension – hier trifft ein durch westlichen Tanz geprägter, westlich denkender, westlich handelnder und kommunizierender Choreograph auf junge Tänzer, die in einem kommunistischen asiatischen Regime aufgewachsen sind und hier ihre Ausbildung absolvieren. Einige von ihnen waren schon in Europa: Xuom hat beispielsweise bereits drei Mal in Produktionen von Régine Chopinot in Frankreich getanzt. Das hat sie heute kurz beim Mittagessen erzählt. Aber die anderen? Wie alt sind sie? Wie nehmen sie Felix’ Arbeitsweise auf, die Inhalte seiner Aufgabenstellungen, aber auch den Tonfall seiner Stimme oder seinen meist ernsten, oft grübelnden, manchmal geradezu mürrischen Gesichtsausdruck? Ihre jungen Gesichter sind glatt. Sie drücken meist so wenig Emotion oder “Anteilnahme” aus, dass ich in Versuchung gerate zu denken, sie wären innerlich gar nicht da. Meinen Eindruck schien auch Felix zu teilen, denn ich hörte einmal, wie er an einer Arbeitsaufgabe Korrekturen vornahm und die Tänzer aufforderte: Mehr Dynamik! Reagiert nicht immer! Manchmal ist es auch wichtig, Widerstand zu leisten! Versteht ihr das Wort “Widerstand”? Kann das jemand übersetzen?
Beim Mittagessen diskutieren Felix und ich: Ob es überhaupt sinnvoll ist, so eine Arbeit zu machen. Ich verstehe die Überlegung zunächst anders (siehe unten), bis Felix genauer erklärt: Manchmal, auch in Europa – das ist gar kein kulturelles Problem, das ich jetzt meine – begreifen die Tänzer nicht, was ich mit meiner Arbeit mache, weil sie nicht offen sind und sein wollen. Dann hat es keinen Zweck, denn dann ist es Zwang. Ich bin dann auch schon zu den Betreffenden gegangen, und manchmal hören sie dann erleichtert auf. Manchmal auch nicht, dann machen sie doch bis zu Ende mit, aber es wird nicht gut, sie werden nicht richtig warm mit dem, was ich tue. Die Frage ist, wie lange braucht es, bis ein Tänzer “umschalten” kann und bereit ist, mutig, bis er aufmachen, loslegen kann? Wie geht das? Warum kann das der eine, aber der andere nicht? Und warum einer sofort und der andere erst nach X Tagen? Und wie lange ist X?
Seine eingangs gestellte Frage nach dem Sinn solcher Produktionen hatte ich ursprünglich so verstanden: dass es keinen Sinn habe, hier in Hanoi zu arbeiten, weil die kulturelle Kluft zu groß sei. Dass er mit dem Stern als kommunistischem, vietnamesischem Symbol einen Vermittlungsversuch starten wolle. [Heute kam ich um 11 Uhr zu den Proben, und das erste, was ich sah, als ich die Tür zur Halle aufmachte, war ein riesengroßer 5-zackiger Stern, der mit tape auf den Tanzboden geklebt worden war, der den ganzen Tag als Raumstruktur in die Übungen eingeht.] Doch Felix widerspricht: Nein, der Stern ist kein vietnamesisches Symbol, sondern wenn überhaupt, dann ein kommunistisches, aber er ist sowieso viel älter. Und mich interessiert nicht die symbolische Ebene, sondern die strukturelle!
Und wieder war es wie gestern: in der letzten Stunde am Nachmittag legte sich plötzlich der Hebel um. Dynamik und Initiative kam in viele Körper, Ideen, Freude, Mut und Einsatz. Es machte Spaß, auf einmal soviel kreative Energie in diesen technisch so gut ausgebildeten Tänzern erwachen zu sehen.
Tagebuch Ruckert 15.9.
Als ich heute Morgen ins Theater kam, sah ich Felix, umgeben von den Tänzern, auf dem Boden sitzen. Alle hatten Notizbücher vor sich und schrieben eifrig auf, was Felix ihnen erklärte. Felix hat damit begonnen, die Themen zusammenzufassen, die er bislang unterrichtet hat. Seine täglichen Arbeitsaufgaben sind Teile einer übergeordneten Kompositionsmethode, die er seit einiger Zeit entwickelt. Ich werde ab morgen genauer auf diese Methode (“tools”) eingehen. Heute habe ich einige Informationen über die Bedeutung des fünfzackigen Sterns zusammengesucht. Hier sind sie:
Fünfzackiger Stern oder: Pentagramm
(griech. pent “fünf”, “fünfzackiger Stern”). Ein Symbol, dem bereits im antiken Griechenland magische Kräfte zugesprochen wurden. Auch Astrologen und Alchimisten des Mittelalters schätzten die Kräfte des Pentagramms, so dass es mit Hexerei und Zauberei im allgemeinen in Verbindung gebracht wird.
Die fünf Spitzen des Pentagramms symbolisieren die vier Elemente Feuer, Wasser, Erde, Luft sowie als fünftes den Äther (Geist). Allerdings gibt es über diese Zuordnung auch andere Deutungen. In der Magie gilt das Pentagramm für eines der mächtigsten Symbole, entweder mit einer Spitze nach oben oder mit zwei Spitzen nach oben (Drudenfuß). Mit der Spitze nach oben ähnelt das Pentagramm einer menschlichen Figur, mit zwei Spitzen nach oben kann man einen gehörnten Kopf darin erkennen. Gern wird das Pentagramm in die Mitte des Magischen Kreises gezeichnet. Wie dieser Kreis bietet auch das Pentagramm als abgeschlossene Linie Schutz vor Dämonen. Seine magische Ausstrahlung spricht man dem Pentagramm zum Teil sicher der Ähnlichkeit mit einem Menschen, der Arme und Beine ausstreckt, zu. Der Schoß mit den Genitalien, Hort der Fruchtbarkeit, liegt dabei genau im Zentrum.
Der Stern auf Nationalflaggen
Der Stern ist ein Symbol, das in der Flaggenkunde nicht zu übersehen ist. Es gibt ihn nämlich auf 80 Nationalflaggen; was etwa 40 % von allen ausmacht. Damit ist er das am häufigsten gebrauchte Symbol. Auf 65 von den 80 Flaggen mit Sternen sind diese fünfzackig. Welche symbolische Bedeutung hat ein Stern? Darauf kann man keine allgemeingültige Antwort geben. Sterne werden oft als Symbole für ganz unterschiedliche Dinge auf verschiedenen Flaggen verwendet. Während Sterne in Verbindung mit der Mondsichel als Symbole für den Islam (aber nicht ausschließlich, siehe Kroatien) gelten, steht der Stern auf der Flagge der Marschall-Inseln für das Christentum. Weitere Bedeutungen hat der Stern bei den afrikanischen Staaten, wo er für die Einheit eines Staates steht, oder aber wie in Somalia für die Vielfalt (fünf Regionen in den Somalis leben).
Der Farbe der Sterne kann keine hervorragende symbolische Bedeutung zugemessen werden. Die klassische Identifikation des Kommunismus mit dem fünfzackigen Roten Stern kann bei den heutigen Flaggen angezweifelt werden. Drei der acht roten Sterne auf Nationalflaggen sind mit einer Mondsichel verbunden und haben nichts mit dem Kommunismus zu tun. Dagegen weisen einige andersfarbige Sterne auf die Erben der marxistischen Lehre hin: gelbe Sterne in Angola, Mosambik und Vietnam und möglicherweise die grünen und schwarzen Sterne in den Flaggen von Senegal, Ghana und Guinea-Bissau.
Tagebuch Ruckert 16.9.
Als ich heute den Probenraum betrete, sehe ich ein langes, rotes Tuch, das die Fläche des Tanzbodens in vier Teile teilt. Auf jeder Fläche arbeiten kleine Gruppen separat. Neben der Musikanlage (Felix hat die schlechte im Saal durch seine Anlage aus seinem Büro hier in der Schule (seiner Privat-lounge – dafür ist Geld da!) ersetzen lassen!) steht eine Tafel, auf der LEVELS steht. Level 1-5 wird da definiert. Ich lese etwa “off ground” oder “four extremes” oder “torso contact”. Die Tänzer, so erklärt mir Ying, haben den ganzen Vormittag mit der Unterscheidung der verschiedenen Ebenen gearbeitet, um sich bewusst zu machen, wo überall Bewegung generiert und komponiert werden kann. Ich sehe, dass Felix jetzt sehr konkret damit beginnt, seine Kompositionstechnik zu unterrichten. Also lese ich mich ein: Er hat sich selbst aus Stichworten eine Struktur gebaut, die ich in seinem Buch auffinden und nachvollziehen kann. Einige der Begriffe kommen mir aus den Proben schon bekannt vor. An dieser Stelle und in den folgenden Tagen will ich Felix’ Kompositionsmethode vorstellen. Dazu greife ich zu Beginn auf einen einleitenden Text zurück, den Felix selbst geschrieben hat:
Text von Felix Ruckert zu TOOLS
Das ” tools “-System
Das ” tools “-System ist eine Ansammlung von Werkzeugen für Tänzer und Choreographen. Es ist kein Stil und keine Technik. Es geht von der Idee aus, das Tanzen mit Denken anfängt, aber nicht unbedingt aufhört, wenn das Denken aussetzt. Es arbeitet mit der Fähigkeit des Gehirns, unterschiedliche Tätigkeiten bei hoher Geschwindigkeit zu koordinieren und der Fähigkeit des Körpers, bei Überforderung des Gehirns selbständig und pragmatisch Entscheidungen zu fällen, ja oft auch kreative, überraschende Lösungen zu finden. Es verlangt präzises Denken. Es trainiert den Verstand der Tänzer, nicht nur den Körper. Es vermittelt die Erkenntnis, dass unsere Sinneswahrnehmung, unsere Körperhaltung und unser Bewegen vor allem von mentalen Prozessen gesteuert werden, und es lehrt Techniken, wie sich diese mentalen Prozesse manipulieren lassen, um kreativ Bewegung zu erzeugen. Das System funktioniert folgendermaßen: Ausgangspunkt sind Prinzipien (principles), d.h. allgemeine und speziell geschaffene Begriffe und Begriffspaare, sowie Techniken und Aktivitäten, die der besseren Übersicht wegen nach den Oberbegriffen ( und choreographischen Grundelementen) Raum – Zeit -Körper geordnet sind. Des weiteren gibt es “principles” für Partnerarbeit und Gruppen. Das System ist auf Englisch abgefasst, da dies im Probenalltag die gebräuchlichste Tanzsprache ist.
Tagebuch Ruckert 17.9.
Ich komme in den Proberaum und sehe an der Tafel folgende Stichworte:
(1) Manipulation of space
– front space
– back space
- a) compression
- b) expansion
- c) transport
(2) Centre of activity
Das ist die Übungsaufgabe für den Tag! Die Tänzer sind für eine Szene von ca. 3 min in Trios organisiert und alle gleichzeitig im Raum verteilt. Für mich ist hier zunächst keine Struktur auszumachen – und dennoch ist sehr klar erkennbar, DASS eine Organisationsform abgesprochen ist!
Und damit übergebe ich an Felix’ Erklärung seiner 5 TOOLS-Prinzipien, Teil II:
principles of SPACE:
levels / horizontal-vertical / straight line and curve / round-square / symmetric-asymmetric/ contact-no contact / surface / inner space-outer space / manipulation of space / transport of space / writing / painting / designing / copying / matching / mapping / transposing / the Laban cube / nine point system restricted areas / hierarchies / power situations / supporting-destroying / touching- receiving / gravity & weight / non- motivated movement / invisible space / address & moving address
principles of TIME:
echo / resonance / repetition / accumulation / rhythm / off-beat / time frames / silence & pause / action-reaction / phrasing / skipping / video editing / anticipation-resistance / foreseeing / same time-shortly before-shortly after / decision and change of decision / memory
principles of BODY
use of anatomic / eyes & focus / breath / muscles-bones / skin / head-spine-tail relations/ hair-no hair / organic structure / isolation / dissociation / weight/ spiral / exposing sensations / enhancing body parts / exchanging body parts / reorganizing the inner body / comfort-discomfort / styles & techniques / quotidian – non quotidian / symmetric – asymmetric body / principle of “one” / evolution / sculpture / hierarchies in the body / one-many / temperature / pressure / friction
principles for PARTNERING
guiding-following / rolling / sliding / weight-counterweight / supporting a designer / skin communication / surprising weight / lines & avoiding lines / contact-no contact / matching in two / small surface-big surface / space manipulation in two
principles for GROUPS
Solo & support / accumulation / lines / clusters / loops / phrase & variation / protagonist & group / Supporter & group / connector & group /catalyst& group / time copying / proliferation / waves / centre of activity / multiple time frames / forward-rewind
Tagebuch Ruckert 20.9.
Heute war ich nicht bei den Proben, daher gehe ich einfach weiter in Felix’ Erklärung zu seinem TOOLS-System:
Aus einem Prinzip (principle) wird eine tänzerische Anwendung (exercise) abgeleitet, die zu spezifischer Bewegung führt, identifizierbar nicht als Form, sondern als QUALITÄT! Die weitere Definition dieser Qualität kann erfolgen durch Festlegung von Regeln (rules), durch Beschränkung auf gewisse Bewegungsmöglichkeiten (possibilities) innerhalb des Prinzips, durch Arbeit mit Bildern und Subtexten (images), die dem Prinzip innewohnen oder auch durch die Konzentration auf gewisse körperliche und emotionale Wahrnehmungen (notions), die bei der Arbeit mit einem Prinzip auftauchen. Die durch eine solchermaßen definierte Qualität entstehenden Bewegungsmuster lassen sich sowohl solistisch als auch von Gruppen anwenden. Die Überlagerung, Reihung oder Kombination verschiedener solcher Bewegungsmuster lassen sich dann unter Einführung weiterer Regeln zu komplexen choreographischen Ereignissen gestalten.
Ein Beispiel:
Das Prinzip “levels” bezeichnet Raumebenen. Ich unterscheide 5 verschiedene “levels”:
Level 1: Am Boden, maximaler Kontakt der Körperoberfläche zum Boden, kein oder nur geringer Einsatz der Extremitäten. Einsatz der Wirbelsäule oder des Torsos als Bewegungsinitiator. Bewegungsmöglichkeiten (“possibilities”) sind : Kriechen, Rollen, Rutschen, Schlängeln, Gleiten, Raupen, Purzeln, Plätschern u.a. Dazugehörige Bilder (“images”) sind: Wurm, Amöbe, Schlange und andere extremitätenlose Tiere ) Erscheinungen (“notions”) dazu sind: Langsamkeit, Schwerfälligkeit, Anstrengung, Sicherheit, Ruhe, Stabilität
Level 2 : Auf allen Vieren, Kontakt von Torso und Extremitäten, Einsatz von Händen und Füßen.
Level 3 : Zwei + Eins, zwei Füße und eine Hand am Boden, tiefes Plié, ein Zwischenlevel vor
Level 4: der human “level”: Gehen, Stehen, Laufen, Tanzen
Level 5: ein oder kein Bodenkontakt: Balancieren, Springen, Fliegen
Zu jedem der “level” 2-5 gibt es natürlich entsprechende possibilities, images und notions.
Tagebuch Ruckert 21.9.
Zurück von meinem Wochenend-Ausflug nach Hué, betrete ich neugierig den Probenraum, höre, dass Felix gerade etwas erklärt, und werfe schnell einen Blick zur Tafel, um zu sehen, was heute Thema ist. Ich lese: VENUS CORRIDOR SYSTEM.
Ein neuer Begriff aus den TOOLS taucht also auf: “System”.
Und zum ersten Mal lese oder höre ich auch den Titel der Produktion: Venus in Hanoi. (Der Name Venus, römische Göttin der Weiblichkeit und der Liebe, meint hier den Stern Venus, dessen Verlauf innerhalb eines Kalenderjahres die Linien eines Pentagramms in den Himmel zeichnet.)
Übersetze ich das Thema von heute, VENUS CORRIDOR SYSTEM, dann handelt es sich also um ein Bewegungskonzept, das die Linien des fünfzackigen Sterns als richtungsweisende Vektoren vorgibt, quasi wie Korridore, auf denen die Tänzer Bewegungen entwickeln und ihre Beziehung zum Raum gestalten. (Eine Aufgabe, die Felix letzte Woche schon öfter benutzt hat, die die Tänzer aber nicht behalten haben. Sie scheinen für seine Unterrichtsmethode kein Körpergedächtnis zu haben. Vielleicht können sie sich besser Schrittkombinationen merken als “gefühlte” tänzerische Elemente wie Dynamik, Empfindungen, Raumwahrnehmung etc.)?
Felix erklärt mir später, dass er bislang vier Systeme entwickelt hat, von denen das VENUS CORRIDOR SYSTEM eines ist. Andere sind: “30-Sekunden-Solo”, “Crossing” und “Multiple Centers of Activity”. Doch dazu an anderer Stelle mehr.
Tagebuch Ruckert 22.9.
Ist es ein deutsches Problem, verstehen zu wollen, was passiert und warum?
Wieso kommen jeden Tag ungefähr alle Tänzer, aber eben nicht alle, die für diese Produktion engagiert sind? Wo sind diese zwei oder drei, die jeden Tag fehlen? Immer fehlen andere, immer ist irgendwer nicht da. Wieso kommt Lily diese Woche auf einmal doch, nachdem sie ursprünglich für das Projekt vorgesehen war, es dann aber plötzlich hieß, es sei entschieden worden, nur die Tänzer des hiesigen Balletts an der Arbeit mit Felix zu beteiligen. Wo sind die anderen freien Tänzer nun abgeblieben? Warum kommt eine dann doch? Wen kann man fragen? Welche Interessen sind das Motiv für diese Entscheidungen?
Und wie lässt sich mit einkalkulieren, ob die Tänzer sich an das Erarbeitete auch erinnern, wenn es drauf ankommt? All die tools, die Systeme, die principles… Nach einem intensiven Arbeitstag scheinen sie ihr Material zu beherrschen – aber nach einem Wochenende oder schon am nächsten Tag kann alles wieder weg sein.
Wie arbeitet man als deutscher Choreograph unter solchen Bedingungen produktiv und effektiv?
Man darf gespannt sein…
Tagebuch Ruckert 23.9.
Hier kommen einige wirklich symptomatische Korrektur-Zitate von Felix:
“Think about what you are doing! If you don’t think, you are just walking.”
“Don’t get into this thing of ‘one is walking, so all the others are walking, too.’ I know it is a habit, we have it in every day life: ‘I am moving because all the others around me are moving, so I better move, too…’ But here we are composing something, this is composition, and we are moving consciously. So you work also with resistance.”
“Engage fully. This is now a general thing. Either you do or you don’t. If you are in between, it is nothing.”
Morgen ist keine Probe, weil die Company einen anderweitigen Auftritt hat. Also schreibe ich Montag weiter…
Tagebuch Ruckert 27.9.
CONTACT / NO CONTACT
Heute fängt ein neuer Abschnitt der Probenarbeit an: Partnerarbeit. Die erste Aufgabe an die Tänzer war, zu entscheiden, ob sie Kontakt auf einer großen oder einer kleinen Oberfläche herstellen wollen. Kontakt hieß dabei zunächst Kontakt zum Raum, zu den Wänden, zum Boden, dann erst zu einem anderen Tänzer. Danach ging es um das Abgeben und das Aufnehmen von Gewicht. Dann um den Wechsel von langsamen und weichen und schnellen, härteren Kontaktsituationen: aufeinander zugehen, miteinander in den Boden gehen, wieder hochkommen und sofort wieder in den nächsten Kontakt und den nächsten “Bodengang”. Wichtig ist, so Felix, bei dieser Aufgabe: “You have to be clear. It is very much about a decision: Which part of your body – small or big – is gonna touch with the other surface.” Was ich zunächst häufig sah, waren Körper, die um Kontrolle bemüht waren, die ins Denken flüchteten, ins Planen, die festhielten, wo sie loslassen sollten. Köpfe, die an langen Hälsen wie Antennen in den Raum ragten, ohne dass das Bewusstsein um dieses Ragen vorhanden war. Kontakte, die sich abrupt ereigneten, wenn ein Tänzer in seinen Partner fiel. Wenn er passiv wurde und kollabierte. Rums in den anderen, Rums in den Boden!
Mit der Zeit jedoch lernten sie, dass Gewicht abgeben auch heißt, die Kontrolle zu behalten. Dass Gewicht nehmen heißt, die Bewegung des anderen vorherzusehen und vorherzuempfinden: Wie schwer wird der Körper sein, wohin wird er fallen, wie bewege ich mich dazu?
Und als Felix am Ende des Tages noch ein System der vergangenen Woche wiederholte (“Multiple Centers of Activity”), da war noch soviel an Material in ihrer Erinnerung, dass es eine richtig gute letzte Arbeitsphase wurde!
Und dann war da noch…
Der Ballettabend in der Oper. Wir sahen u.a. unsere Tänzer in Choreographien einer schwedischen Künstlerin und des Choreographen des Hanoier Nationalballetts. Nachdem ich sah, was da auf der Bühne ablief, konnte ich viel besser verstehen, warum in Felix’ Arbeit die Schwierigkeiten dort liegen, wo sie liegen. Warum die Frauen so wenig expressive Kraft und individuelle Akzente zeigen. Warum sich alle relativ schwer tun, ihren Torso, ihr Zentrum wahrzunehmen und einzusetzen. Was wir sahen, war eine Mischung aus Folklore und Revuetanz, leere Schritte und manieristische Bewegungen der Hände und Arme an leblosen Körpern. Es war irgendwie schade.
Tagebuch Ruckert 28.9.
CONTACT / NO CONTACT II
Hier die tools, die sich für den ersten und zweiten Tag der Partnerarbeit ergeben haben – an der Tafel stehen sie geschrieben, besser noch wären sie jedoch in Kopf und Körper aufgehoben. Doch da ist nicht viel Platz zur Zeit: die Tänzer proben nach der Arbeit mit Felix für eine Aufführung nach der anderen, und man merkt ihnen die Erschöpfung in jeder Faser an.
– big surface / small surface
– taking weight / giving weight
– strong touch / soft touch
– weight out / weight in
– guiding / following
– impulse
Heute höre ich öfter das Wort “centre”, wenn Felix die Übungen anweist. Das hatte ich gestern vermisst und erfuhr bei Nachfrage, dass Partnerarbeit nicht unbedingt mit dem Zentrum arbeiten muss (so wie die Kontakt-Improvisation). Dass man auch off-centre mit Partner arbeiten und Kontakt herstellen kann. Leuchtet ein. Trotzdem heute mehr Zentrum. O-Ton Felix: “What you look for is the centre – here [zeigt]- You have to find it first and then go!”
Tagebuch Ruckert 29.9.
Nach den Proben war ich mit Felix zum Brainstormen im Café. Es geht um den Text für das Programmheft. Was schreiben wir? Wie schreiben wir? Worum geht es? Wie entsteht es? Hier sind (nach bald drei Wochen Proben ;-)) erste Ideen, um was sich das ominöse “Venus in Hanoi” – Projekt eigentlich drehen könnte:
Venus in Hanoi – The art of getting lost. Das könnte der Titel werden.
- Venus. Planet und Symbol. Symbol für Weiblichkeit, Schönheit, den Kommunismus als verallgemeinerndes Prinzip.
- Hanoi. Gewusel (in der Stadt wie im Tanz) wie im Bienenstock, wenn man auf die Stadt wie auf das Stück blickt. Gleichzeitig eine Klarheit und Entschiedenheit in den einzelnen Bewegungen, wenn man auf der selben Ebene schaut. Diese Facette der Bewegungen erinnert an Vektoren oder Kräftepfeile: Bewegung, die hierarchiefrei von irgendwoher kommt und irgendwohin geht, in alle Richtungen und aus allen Richtungen, aber eben immer nur eine im Moment und an einem Körper. “Anything goes” – ob Kapitalismus oder Kommunismus, ob vor, zurück, oben oder unten, schnell oder langsam, stark oder weich. Hauptsache bunt.
- Art of getting lost – Es geht (im Lebensrhythmus der Stadt Hanoi wie in den Proben bei Felix) um eine doppelte Kunstfertigkeit: zum einen, die kinästhetische Wahrnehmung zu schärfen dafür, wie das Regelwerk (der Stadt / des Tanzes) funktioniert, und zum anderen, so schnell wie möglich, also intuitiv und kontrolliert, aktiv darauf zu reagieren und souverän seine Grenzen auszuloten. Dann kann man eines aufgeben: die Idee, rational entscheiden zu wollen oder müssen – das würde zu lange dauern
Tagebuch Ruckert 30.9.
Im Café mit Kim Ngoc (Komponistin) und Felix. Planung und Sichtung des Materials und der Strukturen, wie sie sich bislang rauskristallisiert haben. Felix zeichnet vier abstrakte Muster nebeneinander auf ein Blatt –
- eine ununterbrochene Linie in Schlangenwindungen
- ein Rautenmuster
- eine Verbindung aus Punkten und Punkten, aus denen nach unten kurze Striche abgehen
- eine Schlangenlinie, die einzelne Punkte verbindet oder kreuzt.
Jedes dieser Muster illustriert für ihn eines seiner Systeme:
- a) System “5-5-5”
- b) System “Korridor”
- c) System “30 sec Solo”
- d) System “Multiple Centers of Activity”
Felix kalkuliert mit Kim Ngoc die Zeiten und Variationsmöglichkeiten dieser Bausteine, und es sieht so aus, dass die Systeme – hintereinander gereiht, variiert und evtl. durch ein Vorab-Solo von Lily ergänzt – bereits ca. 40 min Material ergeben können. Ein erster Durchlauf wird für Anfang nächster Woche angedacht.
Tagebuch Ruckert 1.10.
Der Nachmittag war vielleicht der interessanteste, den ich bislang beobachtet habe: Felix hat mit zwei Tänzerinnen an einem Duo geprobt, und aus Platzmangel fand das Ganze in seinem Büro statt – eine für die Tänzerinnen sichtlich ungewohnte Situation. Aber endlich einmal war binnen weniger Minuten eine hochkonzentrierte, ernsthafte und spürbar entschiedene Arbeitsatmosphäre hergestellt. Felix gab zur Aufgabe, eine kurze Phrase im 5er Rhythmus zu komponieren, die insgesamt dreimal fünf Zähleinheiten dauern sollte. Er selbst gab anschließend eine Phrase vor, studierte sie ein und ließ dann die Tänzerinnen Variationen dazu entwickeln. Die TOOLS dieser Übung lauteten: 1. Nach den Linien des Pentagramms im Raum ausrichten (er gab ihnen Zettel, auf denen der Stern markiert war); 2. alle Symmetrien rausnehmen; 3. die Phrase in einen Fluss bringen, so dass die Positionen unsichtbar werden; 4. mit Wechseln von Tempo und Dynamik spielen.
Nach zwei Stunden konzentrierter Arbeit konnte ich sehen, wie viel mutiger, kreativer und freier die Tänzerinnen mit dem Bewegungsmaterial umgingen. Die Schwierigkeiten, die an diesem Nachmittag bis zuletzt eine Herausforderung blieben, waren folgende: “Can you put more air and volume in and around the movements? Try to be suspended in the position! Work more with the space, be strong in the centre!
Tagebuch Ruckert 4.10.
Die Tänzer des Balletts hier in Hanoi verdienen pro Probentag 15.000 Dong, das ist 1 Euro.
Für eine Abendvorstellung bekommen sie 30.000 Dong, das sind 2 Euro. Das ist per Gesetz festgelegt.
Wenn ich ein kleines Pils bestelle, vertrinke ich also den Tageslohn einer der Tänzer.
Für die Vorstellungen von Venus in Hanoi wollte der Direktor des Balletts den Tänzern eine zusätzliche Gage ermöglichen, indem er sie an den Eintrittsgeldern beteiligt. Herr Augustin (Leiter des Goethe-Instituts) möchte jedoch im Sinne einer möglichst sozialen Kulturpolitik erreichen, dass die Eintrittskarten kostenlos vergeben werden, damit überhaupt Vietnamesen kommen, denn die können sich einen Opernabend entweder sowieso nicht leisten oder haben von zeitgenössischem europäischen Tanz noch gar nichts gehört. Er will vermeiden, dass bei all dem Aufwand der letzten Monate hinterher nur 200 Ex-Pats auf den 600 Sitzen des Hanoier Opernhauses sitzen. Das vietnamesische Kulturministerium, Sponsor und Partner des Projekts, will für die Tänzer keine zusätzlichen Gelder löhnen. Also werden die Tänzer vermutlich leer ausgehen. Hier fährt sich also die sozialistische Praxis selbst gegen die Wand.
Tagebuch Ruckert 5.10.
Der Tag verging mit Arbeit am Text für Presseerklärung und Programmheft. Hier kommt eine Kostprobe:
Venus in Hanoi or The Art of Getting Lost
@ Hanoi Opera House, October 17/18, 2004, 8 pm.
@ HCMC Ben Thanh Theatre, October 23/24, 2004, 8 pm.
Der deutsche Choreograph Felix Ruckert, die vietnamesische Komponistin Kim Ngoc (Hanoi), die französische Bühnen- und Lichtdesignerin Isabelle Fuchs (Strasbourg) und die rumänisch-deutsche Kostümbildnerin Daniela Wedhorn (Hamburg) unternehmen zusammen mit 25 Tänzern des vietnamesischen Staatsballetts das größte internationale Tanzexperiment der letzten Jahre in Vietnam. Die vier Vorstellungen in Hanoi und Ho Chi Minh City sind vom Goethe-Institut und dem französischen Kulturinstitut in Hanoi initiiert worden, sie werden unterstützt vom vietnamesischen Ministerium für Kultur und Information und dem französischen und deutschen Auswärtigen Amt.
Venus in Hanoi or The Art of Getting Lost, entsteht derzeit während einer 5-wöchigen Arbeitsaufenthaltes von Ruckert in Hanoi. Als grundlegendes Kompositionselement für seine choreographische Arbeit wählte Ruckert die Zahl 5, die eine sehr spezifische Gestaltung von Raum, Zeit, Klang, Licht und Bewegung generiert. Der fünfzackige Stern der vietnamesischen Flagge, auch Pentagramm genannt, ist ein altes Symbol für den Planeten Venus sowie für die römische Göttin der Weiblichkeit und der Schönheit. Eine weitere Inspirationsquelle für Venus in Hanoi ist die Stadt Hanoi selbst, deren Trubel mit Ruckerts choreographischer Intention für diese Produktion korrespondiert: ein wuseliger Bienenstock. Und trotz alledem ist eine klare Entschiedenheit und Gerichtetheit in den tänzerischen Bewegungen zu erkennen, welche die Regeln von Ästhetik und Schönheit am Rande von Ordnung und Chaos in Frage stellen.
Ruckerts von ihm selbst entwickeltes Kompositionssystem TOOLS, das er für die Entwicklung seiner Choreographie einsetzt, erfordert Klarheit und Präzision im Denken jedes einzelnen Tänzers und schult ihre rationale wie ihre körperliche Intelligenz. Diese choreographische Methode ist sehr demokratisch, denn sie ermöglicht jedem seiner Tänzer höchste individuelle Gestaltungsfreiheit. Aus diesem Grund stellt sie ein völlig neues Konzept für die vietnamesische choreographische und tänzerische Praxis dar.
Das ,tools’- System ist ist eine Ansammlung von Werkzeugen für Tänzer und Choreographen. […] Es geht von der Idee aus, dass Tanzen mit Denken anfängt, aber nicht unbedingt aufhört, wenn das Denken aussetzt. Es vermittelt die Erkenntnis, dass unsere Sinneswahrnehmung, unsere Körperhaltung und unser Bewegen vor allem von mentalen Prozessen gesteuert werden und lehrt Techniken, wie sich diese mentalen Prozesse manipulieren lassen, um kreativ Bewegung zu erzeugen.
(Felix Ruckert, Choreograph)
Tagebuch Ruckert 6.10.
Mittlerweile wird an vier Baustellen parallel gearbeitet – Choreographie, Musik, Beleuchtung und Kostüme.
Heute scheint sich ein wichtiger Hebel im Verständnis der Tänzer umgelegt zu haben: Ich komme gegen 11 Uhr zu den Proben und bemerke eine sichtbare Sensibilität für den Raum in den Bewegungen und Blicken der Tänzer. Plötzlich stellen sie eine Beziehung her: zueinander, zu mir, zu der Luft im Saal. Das Studio wird auf einmal doppelt so groß, die Wirkung ist auffallend und beglückend schön. Daniela kommt wenig später und bemerkt ebenfalls nach nur wenigen Minuten eine qualitative Veränderung. Und selbst die Tänzer kommentieren nach der Mittagspause, dass am Vormittag etwas Wichtiges bei den Proben passiert sei!
Am Abend versuchen Felix, Isabelle und ich zu verstehen, was während der Proben heute besonders gewesen sein mag, das diesen “Hebel” umgelegt hat. Felix meint, es könne mit dem Wort “wait” zusammenhängen, das er heute zum ersten Mal als Übungsaufgabe eingesetzt hat. Vorher war es ihm immer um “suspend” oder “resist” gegangen, und in diesen Übungen hatten die Tänzer gelernt, sich zu bewegen und während ihrer Bewegungen Spannung zu erzeugen. Nie jedoch konnten sie diese Spannung oder Präsenz halten, sobald sie aufhörten, sich zu bewegen. Mit der Idee von “wait” jedoch könnte eine neue Erfahrung in ihnen ausgelöst worden sein. Wer weiss?
Bleibt nun zu hoffen, dass diese Erfahrung einige Zeit anhalten möge!
Tagebuch Ruckert 8.10.
Die Hanoier (und mit ihnen die in dieser Stadt arbeitenden anderen Menschen) sehen sich an diesem langen Wochenende einer dreifachen Steigerung des üblichen Getümmels ausgesetzt: Es herrscht höchste Anspannung auf allen Ebenen: Im Rahmen des europäisch-asiatischen Treffens ASEM-5 sind Chirac und Schröder in Hanoi und werden ihren jeweiligen Kulturinstituten einen Besuch abstatten. Die südostasiatischen Staaten treffen sich zum ASEAN-Gipfel just am selben Wochenende. Und dann feiern die Hanoier am 10.10. schließlich den fünfzigjährigen Jahrestag der Befreiung ihrer Stadt von der französischen Kolonialmacht. Was die Hanoier Polizei liebt ist, die Strassen für die Passage wichtiger Personen zu sperren. Das bedeutet, dass die 4 Mio. Einwohner auf ihren Mopeds sich laut hupend an den Kreuzungen staut und man selbst in diesem Meer versinkt, jeglichen Steuerungswunsch aufgebend und nur die absurde, fast surreale Situation genießend in der Hoffnung, irgendwann aus dieser stinkenden Masse irgendwo wieder ans Tageslicht gespült zu werden.
Felix hat heute einen ersten Durchlauf auf der Bühne des Theatersaals gemacht. Ich fand, es war schon ein positives Zeichen, dass er von vorne bis hinten stattfinden konnte, ohne große Gedächtnisausfälle seitens der Tänzer. Wenn sie sich jetzt noch an ihre jeweiligen Aufgaben und Möglichkeiten innerhalb der Szenen erinnern würden, meinte er…
Tagebuch Ruckert 11.10.
Es gibt diese Momente, in denen es passiert: Wenn beispielsweise Lily, Mingh und Hien drin sind, völlig drin und aufgegangen in der Idee ihrer gegenwärtigen Aufgabe: design visible space. Expand and compress space and work on various levels. Sie kerben Formen aus dem Raum in den Raum. Sie verdichten den Raum zwischen ihren Körpern, zwischen einzelnen Körperteilen sowie zwischen ihren Armen oder Beinen und imaginierten Linien. Die TOOLS gehen auf, die Bewegung wird spannend, wird Tanz, wird Design.
Es gibt aber auch andere Momente, und sie lagern schwer und zäh um die dichten, konzentrierten, kreativen herum. Felix’ Wutausbruch bringt das Problem zum Ausdruck: “You don’t concentrate and that makes the work like in a Kindergarten. It’s like working with children! We could have so much fun if you would only concentrate! I don’t understand! Why can you not focus on what you are supposed to be doing? I simply don’t understand! We could work efficiently on one thing, make it good and then go on to the next. But if you don’t do that, I can go the hard way: we will rehearse two hours longer each day and work on this until it is good. And I want this piece to be good. I promise you, I will make you work. I have more energy than all of you together. And more discipline.”
Index
Tagebuch Ruckert 12.10.
Jalousie, a) frz. für ‚Eifersucht’. b) Im Deutschen wie im Französischen gebräuchlich für einen Sichtschutz, der an den Außenfassaden von Privathäusern horizontal vor den Fensterscheiben angebracht und bei Bedarf herabgelassen wird.
Isabelle hat eine dieser blau-weißen Plastikjalousien besorgt, die es hier in Hanoi vor ungefähr jedem zweiten Wohnraumfenster gibt. Insgesamt sieben Stück sollen an ein oder mehreren Stellen von Venus in Hanoi vom Schnürboden herabgelassen werden. Sie liefern den Tänzern auf diese Weise ein materielles raumdefinierendes “´Hindernis” bei der Aufgabe, durch ihre Bewegungen den Raum zu gestalten.
Jalousie. Die Eifersucht (weiblich). Der Raumteiler. Sichtschutz. Sichtnehmer (männlich). Jedoch kein vollständiger Sichtnehmer: etwas Einblick bleibt – Schatten, Silhouetten, Füße. Das Vorenthalten und Exponieren von Information. Wie ein Schleier. Daher die Eifersucht? Dass nämlich etwas gezeigt und zugleich nicht gezeigt wird. So macht man ein Geheimnis, und so macht man es spannend. (Perec) Eine Jalousie trennt Räume: stellt privaten und öffentlichen Raum her und teilt beide voneinander. Sie selbst ist der Ort, an dem nichts ist, sondern etwas hergestellt wird, was woanders wirkt. Die Jalousie ist damit mehr als eine Schwelle. Sie ist Grenze, Spur, Zeichen, Platzhalter. (Derrida ist tot.)
Tagebuch Ruckert 13.10.
Heute war ein erster Durchlauf mit den (wirklich sehr schönen!) Kostümen. Anlass war der Besuch des vietnamesischen Kulturministeriums, das hier jede Kulturveranstaltung vor der Aufführung auf die Einwandfreiheit ihres Inhalts prüft. Im Gespräch mit Felix abends erfuhr ich, dass den Mitarbeitern das Eingangsbild von der liegenden Tra im Stern als “difficult” und “offensive” erschienen war. Die Tänzerin liegt dort mit weit gespreizten Beinen (1. Offensive), um die Form des Fünfzacks mit ihrem Körper nachzubilden, in der Sternsilhouette flach auf dem Boden, ihre nackten Füße zeigen dabei mit den Sohlen (2. Offensive) zum Publikum.
Was macht Felix jetzt mit dieser Empfindlichkeitsbekundung von Seiten des Ministeriums? Er sagt, er hänge – aus ästhetischen Gründen – nicht sehr an dem Bild und überlege sowieso, es zu ändern: Tra aus dem Zentrum des Sterns mehr an einen Rand zu verlegen, ihre geometrische Ausrichtung auf die Zuschauer hin zu verschieben oder auch die zu flache Aufsicht auf den Körper in der Horizontalen zu verändern. On verra…
Tagebuch Ruckert 15.10.
In Vietnam ist es nötig, Titel und Untertitel eines Theater- oder Tanzstücks ins Vietnamesische zu übersetzen. Beim Übersetzungsvorgang können jedoch Probleme auftauchen, die für westliche Vorstellungen kurios erscheinen:
Beispiel (1): Das Goethe-Institut hätte gern eine Inszenierung von Dürrenmatts “Besuch der alten Dame” gezeigt. Die Zensur gestattete diesen Titel nicht und wollte für die vietnamesische Übersetzung eine fröhlicher oder lustiger, jedenfalls positiver klingende Version. Ihr Vorschlag: “Der Besuch der komischen Dame.” Es kam nie zur Realisierung des Dürrenmatt-Projekts.
Aktuelles Beispiel (2): “Venus in Hanoi” – das schien noch problemlos übersetzbar. Doch dann der Untertitel: “Or The Art of Getting Lost.” Was, bitte schön, soll das bedeuten: “the art of getting lost”? Wir versuchen zu erklären: “Sich verlieren. Verloren gehen. Sich verirren. Verwirren. Sich hingeben.” Nein, bekommen wir als Antwort, das sei ein für vietnamesische Vorstellungen zu negativ besetztes Konzept. So einen Titel werde die Zensur niemals gestatten. Sie wollen keine Negativität, keine Ambiguität. Also wird der Titel geglättet: “Venus in Hanoi – Moderner Tanz aus Deutschland.”
Tagebuch Ruckert 16.10.
Zum ersten Mal auf der Opernbühne. Sie tanzen, als ob man sie in einem Käfig auf eine große Fläche gestellt und dann den Käfig entfernt hätte: Keiner kommt auf die Idee, die alten Grenzen zu überschreiten oder den neuen, großen Raum zu registrieren. Die Bühne ist ganz mit weiß ausgelegt, um die Illusion einer “white box”, einer tabula rasa quasi, zu evozieren. Dass dies eben nur eine Illusion ist, diese Vorstellung von “white box”, das macht Felix deutlich, indem er die Seitenwände nicht ganz hinunterzieht und damit den Blick frei gibt auf die Seitengänge neben der Bühne: die Seile, die Apparaturen, die Utensilien, die Tänzer, die gerade nicht auf der Bühne sind. “Es gibt kein draußen.” Dieses Konzept probt er innerhalb der Systeme, mit den TOOLS, seit Wochen mit ihnen, und diese Auffassung zeigt er ihnen auch mit seiner Entscheidung, die Bühne so offen zu gestalten. Doch sie scheinen sein Konzept vergessen zu haben: sitzen am Rand wie beim Friseur und quatschen, probieren Perücken, dösen. Nehmen nicht teil an dem, was ihre Kollegen auf der Bühne machen. Und sind in dieser Nichtteilnahme leider vollkommen sichtbar.
Felix zeigt Enttäuschung: ihm fehlen die angemessene Konzentration und Initiative, das Engagement, die Disziplin der Tänzer für die besondere Situation, denn immerhin stehen sie einen Tag vor der Premiere! Wann, wenn nicht jetzt, müssten sie alles tun, um gut zu werden, um das Stück gut zu machen, so gut es eben geht?
Tagebuch Ruckert 17.10.
Es ist nicht zu begreifen: Die Daten der Voraufführungen waren lange schon und mehrfach abgesprochen und die Erlaubnis eingeholt. Der Direktor des Balletts wusste ebenso Bescheid wie die Angestellten der Oper. Und jetzt, als gestern Abend um 6 und heute morgen um 11 die Gäste draußen ankamen, konnten die Wärter sich an keine Abmachung erinnern. Wussten von nichts. Hatten keinen Auftrag zum Einlass erhalten. Würden folglich auch niemanden reinlassen. Nicht den Fotografen (hinterher doch), nicht die paar Ex-Pats (hinterher doch), nicht die vietnamesischen Tanzstudenten (die bis zuletzt nicht). Rennen gegen Mauern. Wir sind als Fremdkörper in einem System, das keine Eigeninitiative und keine Flexibilität kennt. Tatsächlich begreifen wir alle, dass den einzelnen Wärter keine Schuld trifft: hinter ihm stehen andere, die mächtiger sind, und hinter denen wieder andere, und so verläuft sich die Kette der Macht ins Dunkle, und es bewegt sich nichts. Felix droht: Wenn auch zur Generalprobe niemand reingelassen wird, lässt er alle Aufführungen platzen. Wenn sie nicht kooperieren, dann kooperiert er auch nicht. Basta. Vielleicht war es diese Drohung, vielleicht ein Telefonanruf hinter den Kulissen: viel zu spät, aber immerhin wurden die geduldigsten der Wartenden samt Fotograf dann doch noch reingelassen, und die Generalprobe konnte doch stattfinden. Beim Mittagessen überlegen wir: Von den Systemen, die wir kennen, welches ist für die Arbeit im Theater-/Tanzbereich das beste? USA? Europa? Das hier? Die Flexibilität an den Theatern in Deutschland steht hoch im Kurs…
Nach der Premiere:
Es war eine gute Premiere, sehr gut sogar. Ohne große Nervosität vorher, und ohne große Aufgeregtheit nachher. Keine Toitoitois, kein Sektkorkengeknall, keine Party, auch keine sichtbare Erleichterung. Stille, innere Freude und Zufriedenheit strahlten sie aus, und es war still auch zwischen uns “anderen”. Doch sehr bald bekamen wir einen Geschmack davon zu spüren, was es heißt, immer beobachtet und kontrolliert zu werden:
Flüsterpost über vier Ecken: Ein Beamter der Regierung saß wohl in den Rängen und hatte Aufsicht auf den gelben Klebestreifen, der das Pentagramm auf dem Bühnenboden zeichnete. Mutmaßung: War es die gelbe Farbe des Klebefilms, die sie provoziert hat? So lächerlich es klingt, es könnte sein, denn die Pentagramm-Struktur war ja bereits durch die Zensur gegangen, sie dürfte demnach eigentlich kein Problem mehr dargestellt haben. Oder war es ein viel tiefer liegendes Problem? Die sichtbare Freiheit in den Bewegungen der Tänzer nämlich, ihre Freude am Entdecken einer individuellen Bewegungssprache? Das ist wahrscheinlich ein seltener Anblick auf den Bühnen Vietnams, und vielleicht steckt da der eigentlich Zündstoff einer solchen Produktion.
Jedenfalls hat der Abend Konsequenzen, und vorerst heißt es:
(1): Nie wieder darf der Ballettdirektor einen internationalen Gastchoreographen einladen, um mit dem Hanoier Staatsballett zu arbeiten.
(2): Felix muss an “Venus” Änderungen vornehmen, sonst gibt es für Montag Spielverbot. ??? Doch welche Änderungen sollen das sein??? Bis zum Ende des Abends weiß niemand Genaueres.
Tagebuch Ruckert 18.10.
Nach einer etwa einstündigen Verhandlung mit einem Mitarbeiter der Zensurbehörde gibt es folgende Lösung für heute abend: Der gelbe Klebestreifen wird gegen grünen ausgetauscht und der Lichtstern wird nicht auf den Boden, sondern an die Wand projiziert. Et puis voilà.
Tagebuch Ruckert 19.10.
Es gab am Montag Vormittag ein langes Gespräch zwischen einem Mitarbeiter der Zensurbehörde und den für “Venus” Verantwortlichen einschließlich Felix. Die Diskussion schien relativ klar zu folgenden Entscheidungen zu führen:
- Die Linienführung auf dem Boden wird vervielfältigt, damit das Pentagramm nicht die einzige und eindeutig erkennbare Struktur bleibt. (Wir denken: Wo erscheint in dieser Stadt nicht überall der Stern, und zwar in keinesfalls respektvollen Positionen?? Auf Touristen-T-Shirts für $ 5,- oder im Inneren von Aschenbechern beispielsweise! Und da stellt seine Verwendung dann kein Problem dar!?)
- Der sternförmige Lichtstrahl wird nicht mehr auf den Boden, sondern an die hintere Bühnenwand projiziert. (Am Abend wirkte der Stern in seinem leuchtenden Pink sehr viel radikaler, er hatte erst jetzt eine provokative Komponente bekommen, die zuvor in dieser Intensität keinesfalls da war. Aber die Wünsche der Behörden waren erfüllt worden, die Aufführung fand statt – und darauf kam es ja an.)
Felix hat Dienstag Abend im Goethe-Institut seine choreographische Arbeit der letzten Jahre vorgestellt und einen kleinen Einblick in sein Verständnis von Tanz (“die Kunst der Bewegung, deren subversives Potential in ihrer Nicht-Fixierbarkeit liegt”) gegeben. Nach seiner Einführung gab es aus dem Publikum eine recht kritische Frage nach seiner Arbeitsweise mit den Tänzern, auf die Felix eine (wie ich finde) erwähnenswerte Antwort gab: “I am very much interested in group processes, in creative situations where the dancers collaborate and at the same time find their individuality. This is a challenge not only for artistic work but for every society and if you want, you can also take it politically.”
Heute ist Donnerstag und Felix, Isabelle, Daniela und die Tänzer fahren nach Saigon, wo “Venus” am kommenden Wochenende noch zweimal aufgeführt werden soll. Ich wünsche allen, dass die beiden Vorstellungen am 23. und 24. dort unten ein ebensolcher Erfolg werden wie hier!
Zum Abschluss meines Tagebuchs möchte ich mich bei Herrn Augustin und Felix für die Organisation und Realisierung dieses interessanten Projekts bedanken und sagen, dass mir die Dokumentation der Proben in den vergangenen Wochen große Freude gemacht hat.
Diese Fotos von den Aufführungen hat der Fotograf Doan Bao Chao für das Goethe-Institut gemacht