Felix Ruckert: Berühren statt Fummeln – Warum dem partizipativen Theater die Zukunft gehört.
“Banana Party” participatory performance by Jean-Christophe Petit / schwelle7 / 2008
Von Felix Ruckert / Mai 2007
Das heutige Verhältnis zwischen Akteuren und Rezipienten im Tanz erinnert an die Lieblosigkeit von Szenen im Swinger-Club. Eine ängstliche und bisweilen lächerliche Mechanik der Begegnung, die der Illusion von Freiheit huldigt. Technische Apparate und Spielzeug ohne Ende, die Nutzung trivial. Aufkommende Gefühle werden umgehend durch Gekicher relativiert. Körperlich lässt man sich gehen, schreckt weder vor Schmutz, Schmerz, noch Schrei zurück, doch das Herz kann und will nicht dabei sein. Nach was klingt das? Auf zeitgenössischen Bühnen wird viel gefickt und geshoppt, aber wenig geliebt und geschenkt. Exquisite Kommunikations-theorien übertönen eine eigentümliche Sprachlosigkeit.
Apropos Shopping : Das erfolgreiche Tanzprodukt erlaubt größtmögliche Projektion. Es erzählt viel und will doch nichts bedeuten. Es simuliert veränderte Wahrnehmung,- anstatt diese tatsächlich zu verändern. Es lässt uns die Wahl zwischen Belanglosigkeiten. Es verkauft uns Variation als Innovation. Wie letztlich alle anderen überflüssigen Konsumprodukte schafft es lediglich die Illusion von Erneuerung und Veränderung, ohne tatsächliche Transformation.
Wie jeder andere kreative Impuls wird auch die rohe, subversive und heilende Kraft des Tanzes vom Markt zerstört. Ein System von Akademien und Festivals, eine Allianz aus Medien, Theoretikern und Veranstaltern filtert die archaische Lust an der Bewegung und destilliert daraus sterile Artefakte, um die Bedürfnisse einer kapriziösen Elite von Tanzbetrachtern zu befriedigen. Konsumgesellschaft. So sehr wir Tänzer auch das Spielerische, Irrationale und Flüchtige unserer Arbeit schätzen, versuchen wir doch auch, marktfähige Produkte herzustellen und so teuer wie möglich zu verkaufen! Auch wir sind geneigt, zu glauben, dass Massenkompatibilität und Verkaufszahlen etwas über Qualität aussagen und ergeben uns so doch den Anforderungen des kollektiven Blicks. Wir liefern in gewünschter Qualität und Farbe.
Theater sind lichtlose schwarze Nicht-Räume, dazu angelegt die differenzierte Alltagswahrnehmung zu fokussieren. Es sind künstliche Nächte, in denen wir unter Einsatz komplizierter Bühnentechnik den Blick auf Wesentliches zu lenken versuchen. Mit der gleichen Verzweiflung arbeitet die Raumfahrttechnik und die fortgeschrittene Physik unter Zuhilfenahme von aufwendiger Technologie daran, die Unendlichkeit des Alls oder die Relativität von Zeit begreiflich zu machen. Würde der gleiche Aufwand betrieben, um das Unbewusste, die menschliche Wahrnehmungsfähigkeit, unsere betriebseigene Software zu erforschen: wieviel befriedigender könnten dann die Ergebnisse sein. Doch solange nicht Verunsicherung und Provokation gefördert werden, sondern Konzept und Konsens…gähn…
Als vor über hundert Jahren die berühmte Lokomotive auf das erste Kinopublikum zustampfte, liefen unsere Großeltern schreiend aus dem Saal. Trotz der technischen Grobheit der Bilder und der Offensichtlichkeit der Illusion konnten die Zuschauer ihrer Wahrnehmung nicht trauen und ihre unmittelbare physische Reaktion nicht unterdrücken. Je ausgefeilter die Kinotechnik wurde, um so differenzierter wurde auch unser Empfinden. Heute können wir sehr wohl zwischen Sein und Schein unterscheiden und uns im Kino mit Lustgewinn harten Gefühlen wie Angst, Ekel, Mitleid oder Trauer aussetzen. Unsere erarbeitete Sensibilität als Rezipient spielt dabei die entscheidende Rolle. Sind wir mit den eigenen Gefühlen vertraut, nehmen wir diese wahr. Sind wir es gewohnt, sie auszudrücken, macht uns das für Authentizität empfänglich.
Der Erfolg des Kinos, aber auch sein Unvermögen, liegt in der Immaterialität der Bilder: Es ist nur Licht. Da jede kinästhetische Erfahrung von vornherein ausgeschlossen ist, bleibt der gefühlsbetonteste unserer Wahrnehmungskanäle blockiert. Wäre es anders, könnten wir Tänzer durch den Verkauf von Bewegung, unserer Kernkompetenz, reich werden. Aber ein Trägermedium zur Konservierung kinematischer Erfahrung ist bisher nicht erfunden. Wie wäre es, wenn man sich das Gefühl einer dreifachen Pirouette, ein Entspannen am Boden per Walkman einspielen könnte?
Der Film erlaubt es also den Kinomachern ihre grausamsten und hemmungslosesten Phantasien zu inszenieren, ohne je die emotionale Sicherheit ihrer Zuschauer ernsthaft zu gefährden. Unser heutiges, differenziertes Sehen lässt die Bilder nur noch bis zum Körper durchdringen, wenn wir uns bewusst dafür entscheiden. Es steht uns frei zu fühlen. vorausgesetzt wir haben es gelernt. Unsere westliche Kultur ist visuell dominiert und haptisch unterentwickelt. Während unser Auge überreizt ist und entsprechend abgehärtet, bleibt unsere Haut wehleidig. Das körperliche Empfinden ist ungeschult und daher überempfindlich.
Intensive physische Erfahrungen wie Hunger, Kälte, Schmerz oder Todesangst sind nicht mehr selbstverständlich wir müssen sie umständlich suchen. Und warum sollten wir auch? Noch sind die Kriege nicht fern genug, noch leiden wir unter den Wunden vorangegangener Generationen, die Grosseltern schreien immer noch.
Dem Bühnentanz wird dies zum Dilemma. Das Publikum ist einerseits visuell abgebrüht und schnell gelangweilt, fühlt sich aber verunsichert oder gar betrogen durch die Möglichkeit des körperlich Unbequemen, der Peinlichkeit authentischer Erfahrung und den schwarzen Löchern realen Empfindens.
Der zeitgenössische Choreograph muss so Angst erzeugen, ohne zu erschrecken, Scham erzeugen, ohne zu beschämen. Der Tänzer muss die Beherrschung von Gefühlen zeigen, nicht die Gefühle selbst. Dieser Spagat zwischen erwünschtem Nervenkitzel und benötigtem Komfort erzeugt viel Heuchelei. Oft bleiben nur zwei Möglichkeiten: Die sogenannten Konzepttänzer setzen auf Verführung durch Verweigerung: Der postmoderne Tänzer ist zwar hervorragend ausgebildet, tanzt aber schlampig. Er sieht gut aus, ist aber hässlich angezogen. Er ist sexy, aber nie sexuell. Nacktheit geht zwar immer – muss aber durch irgendeinen konzeptuellen Blödsinn begründet werden.
Die «Tanztänzer» dagegen, verlassen sich auf die gute alte Formel des heroisierten Schmerzes, der Selbstverletzung, der verzweifelten Virtuosität, des Leidens an der Form: Aufgestaute Emotion verwandelt die sich auf der Bühne explosionsartig in Präsenz. verwandelt. Tapferkeit und Opferbereitschaft sind verlässliche Ware. Vor allem in den mächtigen Kompanien funktioniert das, diese können ihre Tänzer für deren Selbstmissbrauch mit genügend Ruhm und finanzieller Sicherheit kompensieren. Schön anzusehen. Beschämt applaudieren wir.
In einer grandiosen Orgie von Simulation bzw. der Simulation von Orgie (frei nach Baudrillard) wird das Theater immer lauter und zynischer. Es versucht, den Absturz in die Belanglosigkeit zu verhindern, während das Publikum leise den Saal verlässt – nicht enttäuscht Türen schlagend, sondern in der Erkenntnis, dass die spannenden Dinge sowieso anderswo stattfinden.
In den Subkulturen von Körperarbeit und Körperspiel blühen längst Modelle, die sich der Aufhebung von Trennungen widmen: Tanz mischt sich mit Therapie, Schauspiel befruchtet Psychodrama, Kampfkünste werden zu Meditation, Kuscheln wird zur Party. Tantra-Zirkel konzipieren Orgien, Fetisch-Clubs feiern permanenten Karneval. Die schwul-lesbische Szene erfindet mannigfaltige sexuelle Identitäten jenseits von Mann und Frau.Vielfältige Verbindungen. Überall Spüren und Schauen zugleich. Partizipation statt Rezeption.
Auch im Mainstream mehren sich die Zweifel an der Befriedung, die durch passiven Konsum erreicht werden kann. Das Internet als partizipatives, kommunizierendes Medium verdrängt das Fernsehen. Die Sportplätze und Clubs sind voll. Der Mensch will selber spielen. Tango, Salsa, Hip Hop und Contact Improvisation werden zu neuen Volkstänzen und zu Feierabendritualen. Da der Körper als Produktionsmittel weitgehend durch Maschinenkraft ersetzt ist, gewinnt er als Ausdrucksmittel an Bedeutung. Er spielt bei dieser Neuorientierung die zentrale Rolle, wird zum Statement, zum Projekt. Je nach Geschmack, Geldbeutel, Sozialisation und Grad der Neurose wird er verschönert und gestylt, getunt und dekoriert, trainiert und geschult, belastet und ausgetestet, analysiert und reflektiert, gepflegt und geheilt. Natürlich wird er auch zum Produkt geformt, zum Verkaufs- und Werbemittel in eigener Sache. Und doch geht es um mehr: Die Kunden der wuchernden Tanz-Räume, Fitness-Studios, Yoga-Paläste, Tatoo Parlors, Wellness Oasen, Botox Kliniken, Frisiersalons und anderer Spielzimmer haben eins gemeinsam:Den Wunsch nach Schönheit, Wohlbefinden und Gemeinschaft, danach,sich selbst und Andere zu spüren.
Seit über zehn Jahren versuche ich nun meinem Publikum einen Geschmack, einen Geruch, ein Gespür von Tanz zu geben. Ich liess es einzeln von Solo-Tänzern verunsichern (Hautnah, 1995), ich animierte es zum Selbertanzen (Schwartz, 1997), ich liess es organisiert beküssen und befummeln (Ring, 1999). Ich massierte es öffentlich (deluxe joy pilot, 2000), ließ es Fesseln fesseln und Auspeitschen auspeitschen (Secret Service, 2002) und verführte es zu kollektivem Kuscheln (Love Zoo, 2003). Ich lockte es in Sex- und Tantraworkshops (xplore 2004) und verpackte es in Plastik und Eisen (Placebo Treatment, 2005). Zuletzt liess ich es verkleiden, säubern und instruieren und machte es einem größenwahnsinnigen Herrscher (Mir selbst!!) untertan (United Kingdom, 2006).
All diese teils grandiosen, teils lächerlichen Projekte hatte sich das Publikum selbst zuzuschreiben. Es zeigte eine ungeahnte Bereitschaft, sich auszuliefern und eine erstaunliche Lust an solcher Hingabe. Es war für die Aussicht, eine neue Erfahrung machen zu können, in der Lage, Schamgrenzen zu überwinden und Ängste abzulegen All die genannten Ungeheuerlichkeiten, bisher unvorstellbar im Theaterkontext, entstanden aus Zufalls- Kollaborationen mit den wagemutigsten und neugierigsten Teilnehmern meiner Experimente und Versuchsanordnungen.
In der Reflektion all dieser außergewöhnlichen Ereignisse fielen immer wieder drei Begriffe: Präsenz, Durchlässigkeit, Transformation. Wenn Baudrillard recht hat und die Kunst die Religion ersetzt hat (Alle praktizieren sie, aber keiner glaubt daran!), dann handelt es sich hier bei diesen Begrifflichkeiten um die heilige Dreifaltigkeit. Wie die guten alten Wundern, muss man diese Phänomene allerdings erleben, um sie zu begreifen.
Wenn die Neuroforschung recht hat, muss man Handeln um Wahrzunehmen. Wir schritten zur Tat.Die heftigen Reaktionen inspirierten mich dazu, Spielstrukturen und Kompositionswerkzeuge zu entwickeln, um damit auf die Herausforderungen des Unvorhergesehenen flexibler antworten zu können. Dieses Wissen liess sich auch auf konventionellen Bühnen hervorragend anwenden.Ich begann, die Ballettwelt zu unterwandern, die sich plötzlich für weniger traditionelle Formen von Bühnentanz (Tools and Tricks, 2003; Venus in Hanoi, 2004; Tokyo-Tools, 2005)aufgeschlossen zeigte. Die technische Virtuosität und der intelligente Umgang mit Raum und Zeit, die ich in solchen Projekten trainierte, bewährten sich ebenfalls in der direkten physischen Interaktion mit dem Publikum. Tänzerische Strategien zeigten sich auch als erfolgreich, wenn der Körper des Zuschauers bespielt werden sollte.
Offenbar gelang es uns, die von der Theaterwissenschaftlerin Erika Fischer-Lichte in ihrer „Ästhetik des Performativen“ postulierten Schwellenzustände zu erzeugen. Diese begannen nicht nur unser Publikum, sondern auch die Tänzer zu verändern. Sie begannen empatische, psychologische und therapeutische Kompetenzen zu entwickeln.
Dies war keine geplante Entwicklung, sondern ein organisches Wachsen :eher Mutation als Konstruktion,eher Lawine als Schneekanone. Jedes weitere Projekt entstand aus den Fragen, die das vorhergehende aufwarf. Jedes neue Wagnis im Umgang mit dem Publikum wurde von diesem initiiert, verlangt, gar provoziert. So verflüssigten sich die Grenzen zwischen Agierenden und Reagierenden bereits beim Konzipieren neuer Projekte. Die Macht der Wirkung des Prinzips Partizipation begann uns langsam klar zu werden. Die vierte Wand brach zusammen. Die Eigendynamik meiner Projekte überforderte mich oft selbst.
Und auch ich veränderte mich. Die Trennung von Kunst und Leben, Arbeit und Spiel, privat und öffentlich scheint immer schwieriger, aufrechtzuerhalten. Ist dies die ersehnte Wiederverzauberung der Welt oder schon sanfter Wahnsinn?
Partizipatives Theater lässt alle Fragen nach Bedeutung oder Inhalt hinter sich. Es steht für nichts, es agiert. Es ist reine Bewegung. Es ist die Choreographie des Augenblicks und der Ortlosigkeit. Es ist gleichzeitig und überall, da es Raum und Zeit auflöst. Es besteht aus Folgen von Impulsen. Es wuchert. Man nennt es Flow, Ekstase, Meditation, Communitas, Liminalität. Wie all diese Phänomene kann es weit mehr als Unterhaltung:es verändert Leben. Es kennt keine Zuschauer, nur Teilhabende. Es entsteht, wenn deren Wille und Bereitschaft da ist und es verschwindet, wenn deren Aufmerksamkeit nachlässt. Es kann nicht erzwungen, es kann nur geübt werden.
Partizipation ist viel mehr als nur eine marginale Sonderform von Theater, eine anrüchige No-Go-Area in der Tanzlandschaft. Sie ist ein gesellschaftliches Verlangen. Die Aufhebung von Trennungen, die Auflösung von Gegensätzen und das Annehmen von Konflikten sind Teile eines geschichtlichen Prozesses von individueller Emanzipation, Demokratisierung und Enthierarchisierung.
Partizipation ist die grundlegende Strategie auf der Suche nach Erneuerung, Veränderung und Verbindung.