Über Verletzlichkeit (Interview, 2006)

Malou Lindholm in “The Farm” Photo: Peter Hönnemann

Felix Ruckert, befragt von Martin Nachbar, 2006

„Ich mag den Begriff Verletzlichkeit nicht. Er impliziert Verletzung und Schädigung. Verletzlichkeit ist dabei die erhöhte Disposition, verletzt zu werden. Das interessiert mich nicht,“ sagt er. „Im Zusammenhang mit der Bühne spreche ich lieber von Durchlässigkeit. Verletzlichkeit bei Tänzern sehe ich als Erzeugung von Durchlässigkeit durch Missbrauch, wobei es egal ist, ob der Tänzer sich selbst missbraucht oder sich vom Choreographen missbrauchen lässt.”

“Es gibt zwei Seiten und dazwischen einen Membran, an der ein Fluss besteht und Kommunikation stattfindet. Beim Tänzer sind diese zwei Seiten das Innen, die innere Welt und auf der anderen Seite das Außen, der Raum. Das Innen, das sind Wirbelsäule, Herz, Magen, die Geschlechtsorgane, eben alles, was einmal da ist und nur eine Richtung hat. Das Innere vervielfältigt sich über Knochen, Muskeln und subkutane Schichten hin zur Haut, der Oberfläche des Körpers, der Membran. Über diese Membran schafft der Tänzer eine Verbindung vom Einen zum Vielen.“

Was macht dann einen durchlässigen Tänzer aus? „Ein durchlässiger Tänzer ist gleichzeitig ganz innen und ganz außen. Es geht darum, mit der Bewegung im Jetzt zu sein und zwar als Folge von Einsen: jetzt, jetzt, jetzt… Das ist Voraussetzung für gutes Performen. Man könnte das auch als Präsenz bezeichnen. Solche Momente von hoher Durchlässigkeit auf der Bühne sind fast ohne Erinnerung. Die Zeit vergeht schneller als normal. Es gibt weder Vor- noch Zurückdenken, wodurch Zeit ja erst entsteht. Oft wird Präsenz bei Tänzern dadurch gestört, dass sie zurückdenken, z.B. an den Fehler, den sie gerade in der Choreographie gemacht haben. Das macht Zeit dann auch für die Zuschauer sichtbar. Deshalb sagt ein Choreograph seinen Tänzern an irgendeinem Punkt ja auch immer: Vergesst die Choreographie.“

Was für eine Rolle spielen Kontrolle und Hingabe bei dieser Durchlässigkeit? „Sie sind Mittel, Durchlässigkeit zu erreichen. Wenn ich mich hingebe, gestaltet jemand anders die Zeit für mich, ich bin dann also nicht mit Zeit beschäftigt, sondern kann im Jetzt verweilen. Die Kunst im Tanz ist es ja, diese Momente von Jetzt aneinanderzureihen, und aus den Augenblicken von Durchlässigkeit, die wir alle aus dem Alltag kennen, einen ganzen Abend zu gestalten. Man könnte das auch Meditation in Aktion nennen.“

Spielt Schmerz dabei eine Rolle? „Jeder Tänzer, der seine Muskeln dehnt, arbeitet mit Schmerz. Es ist diese Art von wohltuendem Schmerz, die nicht verletzt, sondern mit dem Raum verbindet. Wir strecken uns beim Aufwachen, um uns auf die Außenwelt besser einlassen zu können. Man kann Schmerz aber auch dazu benutzen, Aufmerksamkeit aufs Jetzt zu lenken. Es gibt sehr unterschiedliche Arten von Schmerz. Wie bei einem Ton gibt es da unterschiedliche Frequenzen, was also wieder mit Zeit zu tun hat. Das Organ oder Instrument, Schmerz zu empfinden, ist die Haut. Man kann sie dehnen oder pressen. Kompression, also Druck auf die Haut im herkömmlichen Sinn, zentriert, Dehnung expandiert den Körper und verbindet ihn mit dem Raum. Die Techniken, die sich mit Haut beschäftigen, von der Massage bis zum S/M, beschäftigen sich mit diesen zwei Komponenten. Es sind Möglichkeiten, die Haut aufzubrechen, was immer auch eng mit Auflösung, Grenzverlust, Angst, Neudefinition und Umorientierung zusammenhängt.“

Wie funktioniert S/M im Zusammenhang von Durchlässigkeit? „S/M, so wie ich das aus der Beobachtung her kenne, verbindet immer die Expansion mit der Zentrierung. Das Aufhängen und das Schlagen des Körpers verbinden den Behandelten mit dem Raum, die sexuelle Stimulans dagegen zentriert. Die Behandelten im S/M kriegen eine extrem hohe Präsenz, und das gleicht der Suche bei der Arbeit mit einem Tänzer.“