IKSK – Worum geht es?

ZUSAMMENFASSUNG: Dies ist ein Konzept zur Einrichtung eines Zentrums für innovative Körperforschung in Berlin. Das Zentrum agiert an den Schnittstellen von Tanz, Theater, Wissenschaft , Körperarbeit und Sexualität. Es beabsichtigt vielfältigen Körperpraktiken einen Raum zu bieten, die Avantgarde der internationalen Körperforschung an einem Ort zu versammeln, Vorträge und Seminare, aber auch Installationen, Experimente und Kunstereignisse zu organisieren. Es wird Kongresse und Festivals veranstalten und geeignete Angebote für die gesamte Bevölkerung schaffen. Es beabsichtigt einen einmaligen, innovativen Erlebnisraum und Lernort zu bieten, mit nationaler und internationaler Ausstrahlung. Das Zentrum wurde inzwischen eröffnet, am 9. Oktober 2020, auf dem Holzmarkt in Berlin – Mitte/ Friedrichshain. web site: https://www.iksk-berlin.de/

 

IKSK_INSTITUT FÜR KÖRPERFORSCHUNG UND SEXUELLE KULTUR BERLIN

von Anna Mense und Felix Ruckert

Gliederung:

(1) Die Vision

(2) Zur politischen Problemlage und gesellschaftlichen Relevanz des Projekts

(3) Zur Arbeit von Felix Ruckert

(4) Das Programm des Zentrums / Einige Beispiele

(5) Kurze Geschichte der sexuellen Liberalisierung in Berlin

(6) Literaturhinweise

(1) Die Vision
Der Körper ist historisch gesehen ein komplexes Problemfeld, innerhalb dessen umfassende Diskriminierung und großflächige Ausschluss- und Sanktionierungsmechanismen stattgefunden haben. Dazu gehören die Diskriminierung (a) der Hautfarbe und des Bluts in Form von Rassismus, (b) des Geschlechts in Form von Sexismus, (c) des Begehrens in Form von Homophobie, (d) des Alters in Form von Altersdiskriminierung und (e) der verminderten Leistungsfähigkeit in Form von Ableismus. Das sind sowohl historische als auch gegenwärtige Phänomene, die Mitglieder einer nationalen oder globalen Gesellschaft voneinander trennen. Gleichermaßen verweisen jene Phänomene auf die zentrale Rolle des Körpers in der Gesellschaft und sie motivieren die Frage, warum Leiblichkeit und das Verhältnis zum eigenen Körper sowie zum Körper anderer Personen derartig problembehaftet ist, dass über Generationen und Kulturgemeinschaften hinweg systematisch und strukturell Unrecht produziert worden ist.

Das Projekt Zentrum für neue Körperforschung glaubt, dass die elementare Erfahrung körperlicher Pluralität, das heißt Pluralität und Vielfalt mit Blick auf u.a. ethnische Herkunft, Körperform, Alter, Geschlechtsidentität und sexuelle Orientierung, die Akzeptanz von Andersartigkeit und Vielfalt überhaupt fördert. Dies stellt die Möglichkeit in Aussicht, dass die Akzeptanz von Vielfalt den Körper betreffend auch zur Lösung weiterer sozialer Konflikte beitragen kann, wie beispielsweise in den Bereichen sozio-ökonomischer Ungerechtigkeit, sozialer Segregation oder Kriminalität.

Hieraus ergibt sich die Notwendigkeit eines vielseitigen Lernraums, innerhalb dessen zum einen die Möglichkeit gegeben ist, das individuelle körperliche Selbstverhältnis zu erfahren, zu erforschen und zu entwickeln. Zum anderen ermöglicht ein solcher Lernraum körperliche Begegnungen zwischen Personen, um körperliches Fremdverstehen zu fördern. Philosophinnen und Philosophen wie Hannah Arend, Carolin Emcke oder Jean-Luc Nancy machen darauf aufmerksam, dass die Genese von Selbst- und Fremdverständnis im Wechselwirkungsprozess stattfindet. Personen etablieren ihre Identität, auch ihre sexuelle Identität, nicht für sich alleine in Isolation, sondern im Miteinander mit anderen Personen. In dieser Abhängigkeit von einander besteht laut Emcke eine besondere Verletzlichkeit. Deswegen lohnt es sich einen Selbsterfahrungsraum wie das private Schlafzimmer, das u.a. die Möglichkeit zur Autoerotik bietet, zumindest nicht kategorisch von einem geschützten semi-öffentlichen Bereich zu trennen, in dem Begegnungen zwischen mehreren Personen möglich sind. Gelungene körperliche und sinnliche Begegnungen entstehen auf der Grundlage kultivierter Handlungsstrategien aus dem Wechselwirkungsprozess von Selbst- und Fremdverständnis.

Aufgrund der Komplexität des Lernraums, die sich aus der Komplexität der Sache von Leiblichkeit, schambehafteter Sexualbiographie, erlebter Gewalt, tabuisierter Kommunikation und mangelnder Sexualerziehung ergibt, hat Schutz einen besonderen Stellenwert für uns. Das Projekt Zentrum für neue sexuelle Kultur möchte der Sache angemessen etwas wagen, aber auch einen sicheren Raum kreieren, der jeder Person mit ihren jeweiligen Bedingungen Schutz bietet. Das ist ein Raum der Anerkennung, in dem alle Personen, auch jene, die gängigen Attraktivitätsnormen nicht entsprechen, akzeptiert, berücksichtigt und integriert werden; ein Raum, in dem sinnlich-perzeptuelle und sinnlich-erotische Erfahrungen möglich sind, die zur Zufriedenheit und zum guten Leben von Personen beitragen – ein Raum, der ein friedliches Miteinander von Personen als sexuelle Wesen, einübt und kultiviert.

Die Perspektiven, Fähigkeiten und Einsichten, die es für die Etablierung eines solchen sexpositiven Lernraums bedarf, zeigen auf, dass Sexpositivität nicht hinreichend bestimmt ist, wenn allein auf die Wertschätzung oder Förderung sexueller Handlungen verwiesen wird. Sexpositivität als eine Einstellung und gesellschaftspolitische Haltung, adressiert die Fragen wie wir sein und miteinander leben wollen, wie wir Verbindungen eingehen und aufrecht erhalten können und wie wir uns selbst sowie einander Gesellschaft genießen und freudvoll erleben können. Eine in diesem Sinne integrierte Sexpositivität adressiert fundamentale gemeinschaftliche Prinzipien des Zusammenlebens in einer Gesellschaft. Sie ist eine tiefgreifende Antwort auf die Frage wie kollektive Zufriedenheit möglich ist.

(2) Zur politischen Problemlage und gesellschaftlichen Relevanz des Projekts
Die Ambitionen des Projekts Zentrum für neue Körperforschung einen sexpositiven Lernraum zu errichten, lassen sich in ein gesellschaftliches Ringen um Deutungsmacht und um eine emanzipierte sexuelle Kultur, einordnen. Laut Bullough (1976) lassen sich Gesellschaften in mehr oder weniger sexpositiv oder sexnegativ einteilen. Die USA beispielsweise wird als insbesondere sexnegativ ausgezeichnet. Sexnegative Gesellschaften konzipieren sexuelles Verhalten vornehmlich als riskant, problematisch und konfliktbehaftet. In solchen Gesellschaften gibt es eine relativ enge Bandbreite akzeptierter sexueller Handlungen; die Kommunikation über Sexualität ist eingeschränkt. Sexpositive Gesellschaften hingegen erkennen Risiken und Bedenken sexueller Handlungen an, betonen jedoch die Relevanz sexueller Lust, Freiheit und Diversität. In welcher Dimension Deutschland als sexpositiv oder sexnegativ beschrieben werden kann, muss sich erweisen und soll im Folgenden skizzenhaft thematisiert werden.

Die Möglichkeit einer politisch emanzipierten Sexualkultur in Deutschland wird seit mindestens 2014 vehement bedrängt, was insbesondere dann gut erkennbar ist, wenn man sich den Bereich ansieht, in dem eine Gesellschaft ihre Werte der nächsten Generation weitergibt – und das ist der Bereich schulischer Bildung. Am Beispiel der seit 2014 insbesondere umkämpften Sexualerziehung, soll im Folgenden die Etablierung einer wiederbelebten Sexfeindlichkeit veranschaulicht werden, die derzeit weitreichende bildungspolitische Konsequenzen hat.

Indem Ende 2013 in Baden-Württemberg über die Integration sexueller Vielfalt in den Bildungsplan diskutiert wurde, gelang ein Arbeitspapier, welches sich auf Vorschläge und Einsichten aus der Methodensammlung Sexualpädagogik der Vielfalt stützte, an die Öffentlichkeit und wurde als Gesetzesvorlage missinterpretiert. In Reaktion hierauf entwarf ein Realschullehrer die Petition Zukunft – Lernen – Verantwortung: Kein Bildungsplan unter der Ideologie des Regenbogens. Diese Petition unterschrieben ca. 200.000 Personen und sie wurde zum Ausgangspunkt einer Medienkampagne, die letztlich nicht nur das Schulcurriculum einschränkte und rechts-konservativen Gruppen eine Sprache gab, sondern vor allem auch den gesamtgesellschaftlichen Diskurs über Sexualität, Körperlichkeit, romantische Beziehungen, Gender und Sexualerziehung nachhaltig und grundständig verändert hat. Als Resultat haben letztlich auch gutgemeinte Bildungsangebote von öffentlich rechtlichen Einrichtungen dazu beigetragen, sexfeindliche Grundannahmen ins Fundament des kommunikativen Gedächtnisses unserer Gesellschaft einzuarbeiten. An der Rhetorik, in der die Debatte seit 2014/2015 geführt wird, lässt sich nachvollziehen, wie eine Sorge zentrierte, abweisende und feindselige Haltung gegenüber Sex und Sexualerziehung etabliert wurde: »Was Sie noch nie über Sex wissen wollten«, »Lack und Leder auf dem Lehrplan […] Verwirren Pädagogen Kinder mitunter absichtlich bei Sexualfragen?«,»Feministischer Master-Plan zur Entmannung der Gesellschaft. Wer Jungen systematisch ruhig stellt, sät Verstörtheit und Aggression!«, »Porno, Puff und Petting – Hilfe! Mein Kind wird aufgeklärt!«.
Diese Medienkampagne führte zu rechts-konservativen Demonstrationen wie in etwa Demo für Alle oder die von Citizen Go geförderten Bustouren von Hedwig von Beverfoerde, die gleichermaßen Gerüchte sowie Sorgen mit Blick auf eine angeblich missbräuchliche Sexualerziehung, Gender Ideologie und Sextraining unter Minderjährigen schürten. Häufiges Ziel der Attacken ist unter anderem auch der Begriff der Vielfalt. Wovor haben die Personen Angst, die sich von Vielfalt, eben auch von sexueller Vielfalt, bedrängt fühlen, fragt die Friedensliteraturpreisträgerin Carolin Emcke in Gegen den Hass. Und »was ist von einer Ministerpräsidentin im Saarland zu halten, die in einem Interview mit der Saarbrücker Zeitung vom 3. Juni 2015 vor der Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Partner_innen warnte, weil am Ende „etwa eine Heirat unter engen Verwandten oder von mehr als zwei Menschen“ nicht auszuschließen seien?« Emcke schreibt, sie beruhige gesellschaftliche Vielfalt, weil sie die demokratische Gesellschaft bestätigt, in der verschiedene Lebensentwürfe möglich sind und anerkannt werden.
Neben den wissenschaftlichen Bestrebungen, den rechts-konservativen, verbal-gewaltvollen Gruppierungen Wissen und Bildung in Form von akademischer Forschung und Informationskampagnen entgegenzusetzen, will das Projekt Zentrum für neue Körperforschung einen praktischen Bildungs- und Kulturbeitrag zu einer aufgeschlossenen und informierten Gesellschaft der Vielfalt und Akzeptanz leisten. Anders als wissenschaftliche Forschungsprogramme und institutionelle Bildungseinrichtungen fokussieren wir den selbstbestimmten und experimentellen Kontakt zwischen Personen, der durch vielseitig ausgebildete, internationale Professionelle aus den Bereichen Tanz und Performance, Sexualpädagogik, Mediation, Sozialarbeit, Körperarbeit, Sexarbeit, Philosophie, Kampfsport, Sexualwissenschaft und -therapie angeleitet wird. Tätigkeitsbereiche umfassen u.a. Kommunikationstechniken, Arbeit mit Emotionen, Kink und Consciousness, Sexualbiographie, sexuelles Handlungsspektrum, Techniken, Prinzipen und Safety-Standards in BDSM, somatische Intelligenz, Sensibilisierung für Nähe und Distanz, Körperarbeit mit Tanz, Meditation, Yoga und verschiedenen Kunstformen, gesundheitliche Prävention, gemeinschaftliches Lernen sowie Prinzipien und Bedingungen einer Konsenskultur.

Wir glauben, dass Erziehung nicht nur Ansichten formt, sondern auch Körper und deren Wahrnehmung, Begehren und die Interpretation von Emotionen, welche grundlegend für das Verständnis von Bedürfnissen und Handlungsmotivationen sind. Wir sind der Überzeugung, dass die Entwicklung emotionaler Kompetenz einen wesentlichen Einfluss darauf nimmt, inwiefern Personen sich zu ausgeglichenen, zufriedenen und kommunikationsfähigen Individuen entwickeln, oder etwa ein Leben führen, das von Ängsten und Verunsicherung geprägt ist. Wir beobachten, dass sexuelle Orientierung und sexuelle Identität Lebensentscheidungen prägen und deren Bewusstwerdung dadurch umso wichtiger ist. Wir sehen, dass sich sexuelles Verlangen in unbegrenzter Vielfalt zeigt und dass ständig neue Formen von Lustgestaltung entstehen. Es gibt gute Gründe zur Annahme, dass individualgeschichtlich erlittene Traumata transgenerational weitergegeben werden und einen Kreislauf erlebten und reproduzierten Leids in Gang halten. Wir wissen, dass Diskriminierung und Verletzungen persönliche Krisen bis hin zu Selbstmord auslösen können und weitreichende soziale Hilfs- oder Aufarbeitungsprogramme nach sich ziehen. Wir glauben, dass sexuelle Impulse grundsätzlich eine positive Kraft darstellen, solange sie einvernehmlich und bewusst ausgelebt werden. Und wir stellen fest, dass weder moralische Konventionen noch juristische Sanktionen in der Lage sind, das Phänomen sexueller Transgression zu kontrollieren. Im Gegenteil, wir behaupten, dass sexuelle Repression und sexueller Leistungs- und Normierungszwang in ursächlichem Zusammenhang mit zahlreichen gesellschaftlichen Problemen stehen. Wir sind der Überzeugung, dass ein kultiviertes Gemeinwesen jetzt und hier aktiv werden muss.

Problem Nummer 1: Häusliche Gewalt
Gewalt findet vor allem zu Hause statt. In Beziehungen, Familien, Partnerschaften. Wie in den USA, ist die häufigste Todesursache für Frauen zwischen 25 und 45 in Deutschland Tod durch den eigenen Ehemann oder Partner. Menschen sind wütend und wissen nicht mit ihrer Wut umzugehen. Es fehlen Strategien im Umgang mit Aggression, hilflose Kommunikation lässt Konflikte eskalieren. Nachgeben gilt als Schwäche, Beharrlichkeit um jeden Preis als Tugend. Grenzüberschreitendes Verhalten wie Stalking und Gewalt werden im Kontext romantischer Idealisierung missinterpretiert und nicht oder zu spät als problematisch erkannt. Verletzlichkeit wird abgewehrt, Frustration, Ohnmachtsgefühle und oft auch falsche Vorstellungen von Männlichkeit führen zu gewaltvollen Handlungen.
Auch in nicht gewalttätigen Beziehungen gibt es Defizite, konstruktiv zu kommunizieren. Oft herrscht zusätzlich eine sexuelle Sprachlosigkeit, die deutlich macht, wie unsicher Personen als sexuelle Wesen sind. Bindungen sind kompliziert: Sie brauchen Aufmerksamkeit, Pflege und Forschung. Bindungsarbeit benötigt ein empathisches, vorurteilsfreies Umfeld, kompetente Anleitung und geeignete geschützte Räume. Viele Menschen schrecken ganz vor verbindlichen Beziehungen zurück und ziehen rein körperliche oder ausschließlich virtuelle Begegnungen vor: die Angebote der Sexindustrie und die Möglichkeiten der neuen Medien bedienen diesen Bedarf. Eine Sexualkultur darf aber der Sexindustrie nicht überlassen werden, wenn es um ein friedliches und emanzipiertes gesellschaftliches Miteinander als sexuelle Wesen geht. Wieder andere Personen verabschieden sich ganz von der Hoffnung auf sexuellen Lustgewinn – mit der Gefahr eines Aggressionspotentials, das sich in zuvor kaum bekannter Form derzeit in der Involuntary Celibacy Bewegung zeigt (INCEL). Beziehungsforschung und bewusste Sexualität werden als Privatsache behandelt, obwohl die gesellschaftliche Relevanz dieser Themen offensichtlich ist und zum Beispiel überhaupt erst dazu führen konnte, dass der Bundestag nach einer langwierigen Diskussion Vergewaltigung in der Ehe im Juli 1997(!) unter Strafe stellte.

Problem Nummer 2: Missbrauch
Das andauernde Vorkommen von Missbrauchsfällen wie beispielsweise die 2010 aufgedeckten Missbrauchsfälle in Bildungseinrichtungen wie der Odenwaldschule oder die aktuell monierten, zahlreichen Fälle von Grenzüberschreitungen und Vergewaltigungen wie sie u.a in der #Metoo-Debatte oder auch der früheren #Aufschrei-Debatte sichtbar wurden, verweisen darauf, dass staatliche und institutionelle Anstrengungen bisher nicht annähernd ausreichen, um ein sicheres Leben für alle Gesellschaftsmitglieder sicherzustellen. Der Preis dafür ist hoch: Kinder und Erwachsene, denen Missbrauch widerfährt, tragen die Folgen ein Leben lang. Erlittener Missbrauch bricht mit dem Selbst- und Weltvertrauen und produziert u.a. sexuelle Inkompetenz sowie Gefühle von Isolation, Schuld, Scham, Angst, Wut und Ohnmacht. Die Erfahrung körperlicher Gewalt schreibt sich in die Persönlichkeitsstruktur ein und kann eigene Übergriffe provozieren, sodass sich die erlebte Ungerechtigkeit systematisch fortsetzt.
In dem Aufsatz »Moving Full-Speed Ahead in the Wrong Direction? A Critical Examination of US Sex-Offender Policy from a Positive Sexuality Model«, kritisieren Williams et al. (2015) amerikanische juristische Verfahrensweisen in Bezug auf Sexualstraftaten. Williams et al. argumentieren, dass sich die Verfahrensweisen auf unreflektierte Vorurteile sowie sexnegative Grundannahmen stützen, dass sie Personen ein Leben lang stigmatisieren, vor allem auf harte Strafen setzen und einer wirklichen Verbesserung der Lage damit letztlich entgegenwirken. Dies sind u.a. die Vorurteile, dass alle sexuell straffällig gewordenen Personen gleich seien und aus den gleichen Motiven handelten, dass Bildungs- und Integrationsprogramme nichts nützen würden und dass angehend alle Täter rückfällig werden würden, was sich statistisch nicht bestätigt. Mithin gibt es gute Gründe anzuzweifeln, dass eine Politik, die auf Abschreckung und Bestrafung setzt, die Mittel an der Hand hat, Missbrauch nachhaltig zu bekämpfen. Vielmehr muss an den Ursachen geforscht und im Umgang mit straffällig gewordenen Personen tiefgründiger und nachhaltiger gehandelt werden. Wir fordern, dass die Gesellschaft maximal in die Prävention sexuellen Missbrauchs investiert.

Problem Nummer 3: Geschlechterungerechtigkeit
Martha Nussbaum und u.a. Carolin Emcke beschreiben in der Tradition von Simone de Beauvoir und Judith Butler, inwiefern geschlechtliche Rollen kulturell eingeübt werden. Die rechtliche, wirtschaftliche sowie sexuelle Emanzipation von Frauen und u.a. auch die Erträge der Schwulenbewegung haben zur Entstehung einer Vielzahl neuer Geschlechtsidentitäten beigetragen und ein traditionelles Rollenverständnis vieler Männer erschüttert. Obsolet gewordene juristische oder ökonomische Unterschiede zwischen Männern und Frauen einerseits und eine florierende Entfaltung
verschiedener Geschlechtsidentitäten andererseits destabilisieren ein männliches Selbstverständnis, das sich nie zuvor so tiefgreifend und unter so viel gesellschaftlichem Druck selbst befragen musste. Das kommerzielle Festhalten an heteronormativen Rollenbildern und Grundannahmen, also Annahmen, denen gemäß Geschlechtsidentität entweder kategorisch männlich oder weiblich ist, erschwert die emanzipatorische Selbstvergewisserung darüber, was es heißt, sich als männlich zu verstehen. Die Eröffnung körperpraktischer Erfahrungsfelder, innerhalb derer frei mit den Insignien von Männlichkeit und Weiblichkeit gespielt werden darf, bietet die Chance auf eine Abkehr vom sexnegativen Kampf der Geschlechter (im Englischen »The War on Sex«), hin zu geschlechtlicher Vielfalt und einem solidarischen Miteinander.

Problem Nummer 4: Konsum und Umwelt
Unsere mannigfaltigen Erfahrungen mit sexpositiven Räumen zeigen, dass der allgemeine Konsum von Nahrung, Getränken und anderen Genussmitteln in einer solchen Umgebung zurückgeht. Der sinnlich zufriedene Körper ist satt und neigt weniger zur Bedürfniskompensation durch die Zufuhr unnötiger und ungesunder Nahrung. Die Vermutung liegt nahe, das Personen unter dem Einfluss selbstproduzierter, körpereigener Hormone wie beispielsweise Endorphin, Adrenalin und Oxytocin weniger externe Stimuli benötigen, um sich zufrieden zu fühlen. Berührung ersetzt in dieser Hinsicht nicht nur Kalorien, sie besänftigt auch den Hunger nach Aufmerksamkeit und Zugehörigkeit. Sie sättigt den Wunsch nach seelischer Ernährung, den der Konsum materieller Dinge nur oberflächlich stillt. Sie wirkt sozialer Isolation und Konkurrenzdenken entgegen. Damit gerät eine Politik sexueller Entwicklung und emanzipativer Sexualkultur im Kontext einer konsum- und wachstumsorientierten Gesellschaft jedoch in Konflikt mit wirtschaftlichen Interessen. Im Sinne einer nachhaltig ökologischen Wirtschaftsweise ist dies allerdings der richtige Weg. Die Sexindustrie unterwirft sexuelle Interaktionen dem Prinzip von Angebot und Nachfrage. Sie verstärkt kulturelle Zuschreibungen, die sexuelle Individuen in Abnehmer*innen und Versorger*innen unterteilen und somit einen Markt schaffen, auf dem Geld gegen Attraktivität getauscht wird. Der sexuelle Tauschhandel hält aus Profitinteresse an einem nicht emanzipierten Menschenbild fest, welches ungerechte Machtverhältnisse stabilisiert und Diskriminierung und Ausbeutung fördert. Im Unterschied dazu trägt die Erfahrung von Akzeptanz, Unterstützung und Empowerment in sexpositiven Räumen zu einer psychischen Widerstandsfähigkeit bei, die sich positiv auf Selbstwirksamkeitserwartungen, Kreativität, Kompetenz in Krisen und persönliches Glücksempfinden auswirkt. Wir wünschen uns eine Gesellschaft, in der Sexualität nicht privatisiert, verknappt und verkauft wird, sondern geteilt, gefördert und verschenkt wird.

Problem Nummer 5: Kriege und Konflikte
Wer in den Siebziger Jahren mit der Parole »Make Love, not War« für eine gewaltlose Gesellschaft eintrat, konnte leicht als naiv abgetan werden. Dabei gibt es mittlerweile keinen Zweifel an den verheerenden Folgen von Militärindustrie auf den Klimawandel sowie von militärischen Interventionen auf die individuelle Gesundheit und die Gesundheit des Gemeinwesens. Laut Sidel und Levy (2008) verursachen militärische Interventionen nicht nur Tote, sondern sie zerstören Familien und Gemeinden, sie verursachen Verletzungen, Infektionen, Krankheiten und Epidemien, die Zerstörung von Infrastruktur und dadurch erschwerte medizinische und Lebensmittelversorgung, Unterernährung, die Ausbreitung von Pathogenen und viraler Erreger (zBsp. durch Wasser übertragene Cholera, Dissenterie, Typhus, HIV, Ebola, Masern, Malaria, Tuberkulose), mentales und physisches Leid, sexuellen und physischen Missbrauch, Reproduktionsschwierigkeiten, Depressionen, posttraumatische Belastungsstörungen, Vermögensverlust und Verlust von Perspektiven, Flüchtende sowie staatenlose, innerlich deplatzierte Personen, die an erhöhter Sterblichkeit, Behinderungen und dem Verlust finanzieller Möglichkeiten leiden. Im letzten Jahrhundert sind 100 Millionen Personen in Folge militärischer Interventionen gestorben und die WHO geht davon aus, dass Krieg im Jahr 2020 an achter Stelle der weltweit einflussreichsten Faktoren auf Behinderung und Tod stehen wird.
Wider besseren Wissens feiert die globale Popkultur immer noch den unbesiegbaren, in den Kampf ziehenden Helden als Sexsymbol. Politische Akteure sowie geschlechterspezifische Erziehung legitimieren nach wie vor Gewalt als Mittel zur Durchsetzung von Interessen und Lösung von Konflikten. Es gibt sowohl religiöse als auch politische Akteure, die den persönlichen Wunsch nach Anerkennung und Sinn, nach Sex und Liebe für die militärische Austragung ihrer Konflikte instrumentalisieren. Verlierer der Schere zwischen arm und reich kämpfen unter einander um Besitz, Macht und Status. Terroristischen Gewaltausbrüchen wird die Gewalt von Polizei und Armee entgegengesetzt; fast alle historisch einflussreichen deutschen Parteien sind illegal in den Krieg eingezogen, das heißt ohne Legitimierung des UN Sicherheitsrats. Wo ist das Anzeichen politischen Strebens nach Frieden? Wann und wo soll es möglich sein, sich ganzheitlich um das leiblich-emotionale Wohlbefinden von Personen zu kümmern, wenn nicht jetzt, 75 Jahre nach dem zweiten Weltkrieg, 29 Jahre nach dem Kalten Krieg in einem wirtschaftsstarken Deutschland, das besser als die meisten anderen Staaten mit den Folgen der Corona Krise 2020 wird umgehen können?
Den frustrierten und gestressten, genuin ans Kämpfen um Anerkennung, Arbeit und Vermögen gewöhnten gesellschaftlichen Akteuren wird folgendes Angebot gemacht, das im gleichen Atemzug moralisch unter Strafe gestellt wird: die Ware Sex anbieten oder nachfragen. Eine Gesellschaft ohne Sexarbeit gab es wahrscheinlich nie und es lässt sich nur darüber spekulieren, inwieweit Sexarbeit in friedensfernen Gesellschaften noch zum Besseren beiträgt. Am aktual-politischen Umgang mit Sexarbeit und der Nichteinbeziehung Professioneller in die Gesetzgebung, lässt sich jedoch weder eine Anerkennung der Arbeit, noch des Stellenwerts von Sex, Begehren, Berührung und Körperlichkeit im weitesten Sinne, ablesen. Mit dem Prostitutionsschutzgesetz wurden die Bedingungen für Sexarbeitende erschwert, die Verpflichtung einer offiziellen Registrierung trägt zur Stigmatisierung bei. Sexarbeit gebührt Respekt und professionelle Unterstützung, anstelle zunehmend restriktiver Gesetzgebung.

Die meisten dieser Probleme scheinen gesellschaftlich als unveränderlich oder gar naturgegeben angesehen zu werden. Wir widersprechen dieser Einschätzung. Wir betrachten die genannten Probleme als von Menschen gemacht und daher auch als von Menschen lösbar. Die Ergebnisse unserer Arbeit der letzten 15 Jahre legen nahe, dass die Auseinandersetzung mit dem Thema Sexualität der Gesellschaft wichtige neue Impulse geben kann und in all diesen Fragen Lösungspotential bietet. Aufgrund der zentralen Rolle des Körpers in der Gesellschaft definiert unserer Ansicht nach gerade der Umgang mit dem Thema Sexualität wie aufgeklärt, zukunftsorientiert und nachhaltig eine Gesellschaft handelt. Sexuelle Selbstbestimmung ist Teil des menschlichen Strebens nach Freiheit, Glück und Autonomie. Die kultivierte Wiederinbesitznahme des eigenen sexuellen Körpers ist sowohl Teil der individuellen Selbstwerdung als auch der Selbstwerdung eines Gemeinwesens. Es wird höchste Zeit diesen Prozess der Emanzipation nicht länger einzuschränken, sondern ihn aktiv zu gestalten.
Der Phänomenbereich von Gefühlen, Leiblichkeit, Begehren, Zuneigung, Identität gehört zu einer Kultur des sozialen Miteinander, zu einer emphatischen Gesellschaft, zu einem fortschrittlichen Gemeinwesen. Mit Martha Nussbaum gesprochen kann es sich »keine Gesellschaft leisten diese Gefühle [der Sympathie und Fürsorge] nicht zu kultivieren.«

Literaturhinweise:
Bullough, V. L. (1976). Sexual variance in society and history. Chicago: University of Chicago Press-
Emcke, Carolin (2013), Wie wir begehren, 3. Aufl., Frankfut/Main: Fischer, 2016.
Emcke, Carolin (2015), Weil es sagbar ist. Über Zeugenschaft und Gerechtigkeit, 4th ed., Frankfut/Main: Fischer, 2013.
Sherkat, D. E., & Ellison, C. G. (1997). The cognitive structure of a moral crusade: Conservative Protestantism and opposition to pornography. Social Forces, 75(3), 957–980-
Tuider, Elisabeth/ Dannecker, Martin (2016): Das Recht auf Vielfalt. Aufgaben und Herausforderungen sexueller Bildung. Göttingen: Wallstein Verlag.
Weitzer, R. (2006). Moral crusade against prostitution. Society, 43(3), 33–38.
Williams, DJ and Jeremy N. Thomas, Emily E. Prior, Wendy Walters, » Introducing a Multidisciplinary Framework of Positive Sexuality«, in: Journal of Positive Sexuality, Vol. 1, February 2015.
Williams, DJ, Thomas, Jeremy N., Prior, Emily E., »Moving Full-Speed Ahead in the Wrong Direction? A Critical Examination of US Sex-Offender Policy from a Positive Sexuality Model«, Springer Science+Business Media Dordrecht, 2015
Printmedien
Berliner Zeitung (16.02.2018): Sex-Broschüre für Kita-Kinder.
BILD (26.04.2014): Lesen Sie mal, was Lehrer unseren Kindern heute über Sex beibringen müssen.
BILD Hamburg (02.11.2014): Noch mehr Sex-Schund an Hamburger Schulen.
CDU (21.10.2014): Schriftliche Kleine Anfrage der Abgeordneten Karin Prien (CDU) „Sexualpädagogik der Vielfalt“ – Werden Hamburgs Schüler zu früh unangemessen sexualisiert?
Etschenberg, K. (2014): interview „Das ist Sexualisierung“, in: Die Junge Freiheit (14.11.2014)
FAS (12.10.2014): Unter dem deckmantel der Vielfalt.
FAZ (23.10.2014): Aufklärung oder Anleitung zum Sex?
FAZ (11.11.2014): Angts vor ‚Pornographisierung‘ der Schule
Fleischhauer, J. (28.10.2014): S.P.O.N. – Der Schwarze Kanal – Oralsex fü den Siebtklässler
Freie Welt (24.10.2014): Moderne Sexualpädagogik verwischt Grenze zum Missbrauch.
HNA (30.06.2014): Von Dildos und Liebeskugeln. Kasseler Soziologin schlägt in Buch zur Sexualpädagogik Aufgaben für Jugendliche vor, die es in sich haben.
Junge Freiheit (2014): Sie verführen unsere Kinder.
Kelle, B. (2015): Interview „Der gender-Wahn muss beendet werden“, in: Die Freie Welt (03.03.2015)
Petition „Zukunft – Verantwortung – Lernen: Kein Bildungsplan unter der Ideologie des Regenbogens.
Rörig. J.-W. (16.02.2015): Sexualpädagogik hat grenzen. Das Thema Sex im Schulunterricht darf das Schamgefühl der Kinder nicht verletzten. Sonst können sie leichter Opfer von Missbrauch werden.
Soldt, R. (01.04.2015): Kultusminister Stoch will keine „Frühsexualisierung“.
Spiegel Online (19.03.2015): Sexualkundeunterricht: Schüler sollen Pornos schauen.
SZ-Magazin (05.12.2014): Die nackte Wahrheit. Lernen Kinder in der Schule zu früh zu viel über Sex?

(3) Zur Arbeit von Felix Ruckert

In Weiterentwicklung seiner Betätigung als Tänzer und Choreograph beginnt Felix Ruckert Mitte der Neunziger an einer „Kunst der Berührung“ zu arbeiten, die nach und nach auch den sexuellen Körper mit einbezieht. Der künstlerische Ansatz erweist sich als natürliches Bindeglied zwischen vielen Praktiken, Techniken und Forschungen zu Sexualität. Der Fokus auf den kreativen Aspekt ermöglicht eine Befreiung von einer nützlichkeitsorientierten Zielsetzung: Weder Heilung, noch Erleuchtung, noch Ekstase müssen zwingend aus kreativer sexueller Betätigung resultieren. Der spielerische, vergnügliche und ergebnisoffene Ansatz reicht völlig aus, im richtigen Rahmen sorgt der Körper für sich selbst.

Dieses Konzept setzt Felix Ruckert seit 2004 mit dem Festival xplore um, das bisher 28 mal in sieben Ländern mit etwa sechstausend Besucher*innen stattfand. Es fand einen weiteren Ausdruck in dem Performance Space schwelle7, welcher von 2007 bis 2016 in der Uferstrasse 6 im Berliner Wedding residierte. Beide Projekte, xplore und schwelle7 waren und sind international wegweisend, ihre Existenz haben das Leben und Wirken vieler Menschen nachhaltig verändert. Zu beiden Projekten gibt es web sites (www.xplore-berlin.de und www.schwelle7.de) sowie ausführliche gedruckte Dokumentationen, die wir auf Wunsch gerne zur Verfügung stellen. Zur schwelle7 gibt es darüber hinaus einen Kinofilm: VIOLENTLY HAPPY (2016) wurde auf mehreren internationalen Festivals vorgestellt und lief von Januar bis Juli 2017 in deutschen Kinos. Eine filmische Dokumentation über das Festival xplore 2017 ist zur Zeit in Arbeit.

(4) Das Programm des Zentrums

Die Angebote der neuen Location werden sich von der erfolgreichen Strategie der früheren schwelle7, des Vorläuferprojekts von Felix Ruckert, leiten lassen, d.h. so kommerziell wie nötig und so radikal, sozial und politisch wie möglich sein. Der Ort hat eine aufklärerische und emanzipatorische Grundhaltung und dies wird sich im Programm widerspiegeln. Auch wenn es reflektierende Formate geben wird, soll es keine reine Akademie werden, sondern vor allem ein praktisches Erfahrungsfeld, ein Ort körperlichen Lernens und spielerischer Entdeckung. Eine politische Körperpraxis braucht eine praktische Körperpolitik.

Die wichtigsten Kriterien für alle Interventionen, gleich ob Seminar, Vortrag, Recherche oder Performance sind daher: körperpraktisch, künstlerisch, sexpositiv, innovativ, emanzipatorisch und partizipativ.

Einige Beispiele geplanter Aktivitäten:

Emanzipatorische Körperarbeit
Dazu zählen vor allem Seminare zur Körperkommunikation, inspiriert von Tanz, Choreographie, Contact Improvisation, Body Mind Centering, Continuum Movement und Yoga. Wir verfügen über einen riesigen Pool internationaler Dozenten, die die neuesten Entwicklungen in der tänzerischen und somatischen Arbeit abbilden. Dazu zählen außerdem Kurse in Tantrischer Massage, Shiatsu, Pressure Points und verschiedenen Formen intuitiver Körperarbeit, sowie zahlreiche Formate zur sexuellen Bildung.

Der gemeinsame Nenner all dieser Workshops ist der Fokus auf das Üben von physischer Interaktion. Mag diese spielerisch, heilsam, ästhetisch, sexuell oder emotional motiviert sein, wir achten bei allen Seminaren darauf, dass bestimmte Grundlagen wie Aufmerksamkeit, innere und äußere Haltung, Empathie und Resonanzfähigkeit, Einvernehmlichkeit und Respekt vermittelt werden. Physische Interaktion muss geübt werden, es wird Heranwachsenden nicht automatisch in der Erziehung mitgegeben, unser Schulsystem ist in dieser Hinsicht mangelhaft. Anders lässt es sich wohl nicht erklären, dass die entsprechenden Kurse für Erwachsene bei uns so beliebt sind und einem offensichtlichen Bedarf entsprechen.

Die speziell sexuelle Arbeit umfasst spielerisches Erforschen aber auch anatomisches Kennenlernen, sie vermittelt zuerst einmal einen in jeder Hinsicht kompetenten Umgang mit den eigenen Genitalien bevor sie sich der Partnerarbeit zuwendet. Diese konzentriert sich vor allem auf den Aspekt der Ermächtigung und Wiederinbesitznahme der individuellen Sexualität, „bei sich“ zu bleiben auch in sexueller Interaktion mit Anderen, bewusst JA und deutlich NEIN sagen zu können. Dies schafft die Voraussetzung zur Hinterfragung und gelegentlichen Umkehrung von Geschlechterklischees sowie zur Konstruktion, Dekonstruktion und Rekonstruktion sexueller Identität.

Die künstlerischen und heilenden Techniken nehmen erstmal Abstand von jeder Sexualisierung des Körpers. Sie beschäftigen sich profund mit allgemeiner körperlicher Mechanik und Funktion, mit Knochen, Muskeln und Fasern, mit Herz und Nieren, mit dem Materiellen und der Bewegung des materiellen Körpers. Diese nicht sexuellen Praktiken unterstreichen das Gemeinsame von Körpern und fördern einen, neutralen, entspannten und natürlichen Umgang mit dem eigenen wie auch dem fremden Körper. Sie unterstützen die Verflüssigung von Geschlechternormen, welche die individuelle Entfaltung behindern und gleichberechtigte Kommunikation einschränken.

BDSM & Conscious Kink
Dieser Schwerpunkt stellte ein Alleinstellungsmerkmal der schwelle7 dar und diese besondere Arbeit soll auch in der neuen Location fortgesetzt werden.

BDSM ist ein Überbegriff aus dem Amerikanischen (Bondage&Discipline /Dominance&Submission/ Sadism&Masochism) und bezeichnet alle Spielarten von Sexualität zwischen einvernehmlichen Erwachsenen, bei denen Restriktion, Reduktion, intensive Stimulation, Machtgefälle, Fetische, Rollenspiel, Belohnung/Bestrafung und Schmerzlust eine Rolle spielen. Das Feld des BDSM erstreckt sich in alle Himmelsrichtungen, Höhen und Tiefen und umfasst die ungewöhnlichsten Praktiken und Fetische. Bis noch vor wenigen Jahren galt alle BDSM Praxis als so angsteinflößend, dass Wissen und praktische Techniken nur in hermetischen, privaten Zirkeln weitergegeben wurde. Diese Zeit endete in Berlin spätestens mit der xplore (2004): das Festival hat in den 14 Jahren seiner Existenz ganz wesentlich zur Entstehung einer weitgehend öffentlichen Szene beigetragen, die sich unter dem Begriff Conscious Kink sammelt.

Das Phänomen BDSM fasziniert, da es sowohl theatralisch, therapeutisch, sexuell als auch sozial und politisch wirken kann. Dass aus einvernehmlichem „Missbrauch“, geplanter „Aggression“ und bewusster „Schädigung“ tatsächlich Lustgewinn, Ermächtigung und sogar Heilung entstehen kann, setzt Qualitäten wie Direktheit, Entschlossenheit, Aufrichtigkeit, Mitgefühl, Vertrauen, Hingabe, Demut und Tapferkeit voraus. Das Erlernen und Praktizieren von BDSM fördert soziale Kompetenzen und emotionale Intelligenz.

„It is all about sex, except sex: sex is about power“ schreibt Oscar Wilde.
BDSM bietet die Möglichkeit, Fantasien von Allmacht, Gewalt, Bestrafung und Kontrolle, oder aber auch von Ohnmacht, Aufopferung, Erlösung und Kontrollverlust gefahrlos auszuleben. BDSM erlaubt eine Erforschung und Verkörperlichung gewalttätiger und gewaltsuchender Persönlichkeitsanteile sowie eine Auseinandersetzung mit neurotischen Mustern und hält somit auch Strategien zur Konfliktlösung und -vermeidung bereit.

Wir halten den offenen und bewussten Umgang mit Sexualität in ihren verschiedenen Ausdrucksformen für eine zivilisatorische Errungenschaft, eine kulturelle Leistung, deren Erforschung propagiert und deren Ausübung staatlich gefördert werden sollte.

Shibari – Japanische Seil Bondage
Von allen BDSM Praktiken ist dies wohl die populärste Spielart. Fesseln und sich Fesseln lassen ist nicht unbedingt sexuell oder besonders schmerzhaft- obwohl es auch diese Elemente enthalten kann. Wie es die Bezeichnung Bondage nahelegt geht es um Bindung und Bindung eingehen. Kontrolle ausüben und Kontrolle abgeben, Halten und Loslassen, kreatives Gestalten mit Schwerkraft, Empfindung, körperlicher und mentaler Flexibilität. Die Begegnungsebene ist emotional, die entstehenden Bilder ästhetisch reizvoll, die Situation mal kreativ-virtuos, mal sinnlich-meditativ, mal rau-überwältigend. Je nach Gefühlszustand und Chemie der Partner kann sich jede Session völlig anders entwickeln, sowohl ästhetisch als auch emotional. Die Partnerstruktur von Fesselndem und Gefesselten kommt der Gewohnheit von Intimität als One-on-One Situation entgegen, die Praxis lässt sich auch sonst in vieler Hinsicht mit Tango Argentino oder Contact Improvisation vergleichen: nonverbale Kommunikation, kreativer Dialog, ästhetisches Erleben, choreographisches Komponieren sind die Schlüsselelemente. Bei öffentlichen Rope Bondage Events ist der sexuelle Aspekt unserer Erfahrung nach nicht präsenter als bei den genannten Tanzveranstaltungen. Dies steht im Gegensatz zur allgemeinen Meinung, die vor allem auf Darstellungen von Seil Bondage im Internet beruht, welche explizit sexualisierte Präsentation und viel Nacktheit favorisieren. Im Gegensatz dazu ist die Atmosphäre bei Workshops und „Bondage Jams“ (offenen, improvisierten Fesseltreffen ohne spezielle Leitung – ein Begriff der von schwelle7 geprägt wurde und inzwischen weltweit diese bestimmte Form der Praxis beschreibt) eher freundlich-entspannt als erotisch-aufgeladen, eher meditativ-konzentriert als nervös-erregt. Insofern bietet die Praxis einen einfachen Einstieg in die Welt des BDSM und das Spiel mit Kontrolle und Kontrollverlust. Eine erhebliche Anzahl von Fesselkünstlern arbeitet auch daran Seil Bondage als Performance Kunst mit professionellem Anspruch zu etablieren. Auch dafür entstehen jährlich neue Festivals und Events.

Während es vor 20 Jahren gerade mal eine Handvoll von Praktizierenden in Deutschland gab, zählt die Bondage Szene inzwischen mehrere zehntausend Personen, mit Schulen, Fesseltreffs, Festivals und Netzwerken im ganzen Land. Bisher ist noch kein Ende dieser Expansion abzusehen. schwelle7 hat wesentlich zu dieser Entwicklung beigetragen, da wir als erste europäische Institution anfingen, systematisch japanische Meister der Technik nach Berlin einzuladen und die wichtigsten europäischen Künstler zu promoten. Dies machte schwelle7 schnell zum Treffpunkt der technisch versiertesten und kreativ innovativsten Fesselkünstler*innen Europas. Nach wie vor veranstaltet der Verein „schwelle7“ zweimal jährlich, auf dem Gelände des Holzmarkt, die „EURIX – European Rigger & Model Exchange“, ein Festival zum Austausch und zur Recherche, das sich der technischen und künstlerischen Weiterentwicklung von Shibari widmet.

Der neue Ort soll in Zukunft auch den richtigen Rahmen für die sich ständig erweiternde EURIX bilden und außerdem das restliche Jahr über Kurse, Performances und Bondage Jams anbieten. Die Shibari Praxis wird ein wesentliches ökonomisches Standbein des Ortes darstellen.

Magische Felder
Gesellschaftliche Entwicklung braucht Freiräume: temporäre autonome Zonen wie Hakim Bey sie beschreibt. Soziale Skulpturen. Strawberry Fields. Wir nennen sie – frei nach John Cage – Celebrations oder Magische Felder. Das Theater hat den Anspruch ein Ort der Magie sein, scheint aber in seiner konventionellen Form die Attraktivität für die junge Generation zu verlieren. Diese verbringt ihre Freizeit lieber in Clubs, auf Festivals oder in den virtuellen Weiten des Internets. Die am neuen Ort geplanten Celebrations verbinden Genauigkeit in Raum und Zeit, die theatralische Inszenierung mit der Anarchie impulsgesteuerter Körperpraktiken wie Tanz, oder eben auch BDSM. Club und Bühne, Impuls und Choreographie, Kunst und Spiel verbinden sich zu neuen Formen gemeinschaftsstiftender Rituale. Dies benötigt einen speziellen, wandelbaren Raum: einen Salon, eine Oase, einen Tempel, ein Raumschiff. Theatralik, Kostüme und Rollenspiele funktionieren als Katalysatoren und bieten eine Hülle, einen Schutz der zugleich auch der Verwandlung dient. Dekonstruktion von Identität als Voraussetzung für Transformation kann nur durch entschlossene Verkörperung des „Anderen“ stattfinden.

Es braucht besondere Forschungsreisenden für diese Expeditionen ins nahe Unbekannte. Eine frei gewählte Realität wird nur zur Wirklichkeit durch die Ernsthaftigkeit der Wanderer zwischen den Welten. Emotionale und soziale Kompetenz, körperliche Erfahrung und Entschlossenheit, Kommunikationsfähigkeit und Klarheit sind die Anforderungen an die Teilnehmer*innen dieser Meisterklassen. Für die Mitgestaltung der magischen Felder bestehen Voraussetzungen von Verständnis für körper-künstlerische und psycho-magische Prozesse. Es geht um Lebendigkeit. Deren Verkörperung wird am Ort gelehrt und geübt und kann sich in den Celebrations frei entfalten.

Die Magischen Felder werden die Zukunft des Ortes sein, mit dem Anspruch eine fundamental neue Art von Theater zu verwirklichen.

(5) Eine kurze Geschichte der sexuellen Liberalisierung in Berlin

Berlin kann auf eine lange Geschichte als Wiege sexueller Emanzipation verweisen. Schon im Jahre 1919 öffnet hier das weltweit erste „Institut für Sexuelle Wissenschaft“ im Tiergarten, an der Ecke Beethovenstrasse / In den Zelten, wo unter Leitung des Arztes Markus Hirschfeld nicht nur geforscht und dokumentiert, sondern auch gelehrt und behandelt wird. Allein im ersten Jahr führt das Institut 1800 Konsultationen zu sexuellen Störungen durch, neben Kursen und Vorträgen. Viele der so genannten „Störungen“ sind leicht zu beheben: Ja, es ist in Ordnung, sich in das gleiche Geschlecht zu verlieben. Nein, es ist nicht gefährlich, täglich Sex zu haben, etc. Das Institut beherbergt außerdem ein Museum mit Informationen und Ausstellungsstücken zu den unterschiedlichsten Praktiken und Fetischen. Das Institut wird getragen von einer breiten Unterstützergemeinde, viele Angebote sind umsonst.

Der gerade verlorene Krieg und der Zerfall des Kaiserreichs begünstigen eine Abkehr von überkommener Moral und verbrauchten Regeln. Unter Aufsicht eher liberaler Behörden entwickelt Berlin in den folgenden Jahren eine unglaubliche Vielfalt an Vergnügungsstätten für jeden sexuellen Geschmack und wird zum Mekka für die Freigeister der Zeit. Homosexuelle, Fetischisten und Libertäre aus der ganzen Welt zelebrieren die neue Freiheit in Clubs, Bars, Tanzhallen und den ersten Darkrooms. Auch im öffentlichen Raum sieht man gleichgeschlechtliche Paare Zärtlichkeiten austauschen: einmalig im Europa dieser Zeit, immer noch undenkbar in vielen Ländern der Welt heute, fast hundert Jahre später.

Neue Entwicklungen in Medizin und Wissenschaft, sowie die Anfänge der Psychoanalyse, lenken die Aufmerksamkeit auf den sexuellen Körper, der erstmals zum akzeptierten Forschungsobjekt wird. Dennoch wagen es nur wenige Prominente – wie Hirschfeld – die eigene homosexuelle Orientierung öffentlich zu machen. Prinz von Eulenburg, vor dem Krieg engster Berater von Kaiser Wilhelm, sowie Walter Rathenau, der spätere sozialdemokratische Außenminister bleiben „im Schrank“.

Die Erkenntnis, dass Sexualität sich nicht normieren lässt, setzt sich bereits durch, dennoch fehlen der Mut und die Mittel zur selbstbewussten Verkörperung solcher Ideen. Die immer noch von Imperialismus, Militarismus, Katholizismus und anderen Ismen geprägte Kultur der Zeit durchtränkt das kollektive Bewusstsein mit Schuld, Scham und Angst in sexuellen Dingen. Der Anspruch auf sexuelle Freiheit kann sich in diesem psychosozialen Umfeld nur als kontrollierter, inszenierter Tabubruch – idealtypisch und tragisch verkörpert im kurzen Leben der Avantgarde Tänzerin Anita Berber – verwirklichen, ohne die Möglichkeit als selbstverständliche, alltägliche Wahl akzeptiert zu werden.

Wenige Jahre später wird diese Berliner Idylle vom Faschismus hinweggewischt, dessen Totalitätsanspruch den gesamten „Volkskörper“ beansprucht. Die – durchaus existenten – sozialistischen und emanzipatorischen Strömungen im frühen Nationalsozialismus werden eliminiert, als es gilt mehrheitsfähiger Mainstream zu werden: der offen homosexuell lebende SA-Führer Ernst Röhm wird 1934 entmachtet und ermordet.

Viele Jahre müssen vergehen, bevor eine neue Generation sich an das Thema wagt. Eine ehemalige Wehrmachtsfliegerin verlegt sich in den gebärfreudigen Fünfziger auf das Sexbusiness und versorgt deutsche Schlafzimmer mit Gleitgel und Kondomen: Beate Uhse und die 1961 auf den Markt gekommene „Pille“ ermöglichen Verhütung und Schwangerschaftskontrolle, helfen den Deutschen sich ihre Sexualität zurück zu erobern und bereiten damit den Weg für die sexuelle Revolution, die die Sechziger prägt. Der Begriff „Sexuelle Revolution“ wurde von Wilhelm Reich geprägt, dessen gleichnamiges Werk von 1936(!) erst 1966 auf deutsch erscheint und dessen Forschung die ersten körperpraktischen Therapien inspiriert. Ein weiterer Vordenker ist Herbert Marcuse, dessen 1957 veröffentlichtes Buch Triebstruktur und Gesellschaft zehn Jahre später von der 68’er Bewegung wieder entdeckt wird.

Mit der sexuellen Selbstbestimmung der APO- Sympathisanten und Hippies ist es noch nicht weit her: Erst einmal werden alte Dogmen durch neue ersetzt. Romantische Liebe und Ehe werden zum neuen Tabu, der sexuelle Aufstand wird mit der gleichen Verbissenheit geprobt wie der politische; die 68er scheitern an der Unfähigkeit emotional zu verdauen was rational geboten scheint. Immerhin wird 1969 in Westdeutschland endlich der schon von Hirschfeld bekämpfte §175 reformiert (ganz abgeschafft wird er erst 1994!), der bis dahin sexuelle Betätigung zwischen Männern unter Strafe stellte. Kurioserweise nicht zwischen Frauen! Zwischen 1945 und 1969 werden um die 100 000 homosexuelle Männer wegen dieses Paragraphen strafrechtlich verfolgt, etwa die Hälfte davon verbüßt Freiheitsstrafen. Eine weitere Folge von 1968: die Schweiz verschafft dem weiblichen Teil ihrer Bevölkerung endlich das Wahlrecht, im Jahre – man glaubt es kaum – 1970. Ab 1977 dürfen Frauen in der BRD sogar Arbeitsverträge abschließen, ohne die Erlaubnis ihres Ehemanns einholen zu müssen.

Ende der 70er bemüht man sich in progressiven Westberliner Kommunen mit deutscher Gründlichkeit um die freie Liebe; Sex wird genauso kollektiv organisiert wie der gemeinsame Abwasch. In Wien beginn AAO Gründer Otto Mühl seine Experimente zur Schaffung des neuen, sexuell befreiten Menschen, überall in Europa bewirtschaften ländliche Gemeinschaften gemeinsam Kräutergarten und Töpferei, teilen entschlossen und oft etwas unbeholfen Tisch und Bett. All diese gut gemeinten und oft auch richtig gedachten Pioniertaten scheitern letztendlich an einer naiven Überzeugung: dem Gedanke, das Phänomen Sex kontrollieren zu können; am Glauben, es genüge die alten Normen durch neue zu ersetzen. Das Desaster ist vorprogrammiert, neue Ideen sind gefragt.

In den späten Siebzigern und Achtzigern öffnet sich, ausgelöst durch die Begegnung westlicher Körperarbeiter und Therapeuten mit den neo-tantrischen Lehren des Gurus Rajneesh „Osho” in Poona, ein neues Feld der Forschung: der spirituelle Sex – Vögeln als Pfad zur Erleuchtung – ist erfunden. Welcher westliche Sinn-Sucher kann da widerstehen? Die tantrische Bewegung ist ein voller Erfolg, eine ganze Industrie entsteht in den Folgejahren, ganz entspannt im Hier und Jetzt. In Berlin tanzt man rauchfrei und barfuss im Far Out am Adenauerplatz, eine ganze Reihe Institute für tantrische Praktiken öffnen ihre Pforten. Für aufgeschlossene Paare der akademischen Mittelschicht gehört die Teilnahme an einem beziehungsauffrischenden Tantrakurs mittlerweile zum „Life Style“.

Zeitgleich, auf der anderen Seite der Welt in San Francisco, Kalifornien entdecken alternde Hippies wie Janet Hardy und Dossie Easton die Wunderwelt des BDSM. Es ist zuerst die queere Community der Leather Folks und schwulen Saunagänger, die schon früh die stimulierende Wirkung härterer Praktiken entdeckt und Macht und Ohnmacht, Dominanz und Unterwerfung, als wesentliche Elemente von Sexualität würdigen. Mittendrin in der kalifornischen SM-Szene, der Schutzheilige aller Perversen und Performer, Michel Foucault, der mit dem Prinzip von Sexualität als sozialer Konstruktion auch den philosophischen Überbau zum Spiel mit Schmerz und Lust liefert. Wenig später erklärt Judith Butler Gender zur kulturell geformten Performance und betont die Notwendigkeit sich der Gewalt zu widersetzen die durch idealtypische Geschlechternormen ausgeübt wird.

So mit einem theoretischen Überbau versehen und einmal das beruhigende Fangnetz „Safe, Sane, Consensual“ (Sicherheit, gesunder Menschenverstand und Einvernehmlichkeit) aufgespannt, expandiert BDSM rasch vom queeren in den heterosexuellen Mainstream. Das Internet trägt wesentlich zur Organisation und Vernetzung der Szene bei: hier finden sich Gleichgesinnte auch für die ungewöhnlichste Neigung, der Perverse ist nicht mehr allein.

In Europa entwickeln Psychoanalytiker, Körpertherapeuten und Eheberater derweil neue Konzepte von Liebe und Beziehung, revolutionieren und erfinden Techniken zum Umgang mit sexueller Prägung, mit Missbrauch und Trauma. Die Gesellschaft hat längst das Prinzip der Unauflöslichkeit der Ehe aufgegeben, bald wird auch die Monogamie an sich in Frage gestellt und eifrig nach neuen Beziehungsformen gefahndet. Hedonistische Partygänger eröffnen 1994 in Berlin den Kitkat Club, der den One Night Stand pragmatisch gleich in den Club verlegt. 2001 bringt nicht zuletzt der entspannte Umgang mit seiner Sexualität den Berliner Bürgermeister Klaus Wowereit ins Amt. Und heute, mit „Fifty Shades of Grey“, der aktuellen Neufassung der Dornröschen- Geschichte – 125 Millionen verkaufter Exemplare weltweit – beginnt auch der Normalbürger zu ahnen, dass SM eine schöne Sache ist.  Eine breite sex-positive Bewegung  mit Hunderten von Gruppen, Festivals und Events ist mittlerweile entstanden. Ihre unstrittige Hauptstadt heisst Berlin und diese Bewegung beginnt sich mehr und mehr auch zu organisieren und öffentlich und politisch zu äussern. Sie ist nicht aufzuhalten!

(6) Literaturhinweise

Martin Dubermann: Jews Queers Germans / Seven Stories Press / 2017
Grayson Perry: The Descent of Man / Allen Lane / 2016
Bessel van der Kolk: The Body Keeps the Score / Penguin Books /2015
Andreas Weber: Lebendigkeit – Eine erotische Ökologie / Matthes&Seitz / 2014
Marty Klein: Sexual Intelligence / HarperOne / 2012
Dossie Easton & Janet Hardy: Radical Ecstacy / Greenery Press / 2012
Eva Illouz: Warum Liebe wehtut / Suhrkamp / 2012
Dossie Easton & Janet Hardy: The Ethical Slut / Greenery Press / 1995