INTERVIEW – SEPARÉE 2/ 21

Felix Ruckert im Interview mit Brenda Strohmaier, über das neue Institut in Berlin

Separée Magazin, erschienen Februar 2021

Felix Ruckert steht an einem der vielen Fenster seines frisch gegründeten „Instituts für Körperforschung und sexuelle Kultur“. Sein Blick schweift über Spree, Bahntrassen, Dom. „Das hat schon eine große Kraft, dass wir hier mittendrin in Berlin sitzen statt in einem Hinterhof in Wedding“, sagt er. Tatsächlich ist der Sitz seines neuen Instituts ein Zeichen dafür, dass das Thema BDSM in der Mitte der Stadt und der Gesellschaft angekommen ist. Ein guter Zeitpunkt, um Ruckert zu bitten, anfängertauglich zu erklären, wie Schmerz und Unterwerfung so populär werden konnten.

Felix Ruckert, Jahrgang 1959, Choreograf und Tänzer, ist in der sexpositiven Welt schon lange weit über die Grenzen Berlins hinaus bekannt. Das liegt unter anderem am Festival Xplore, das er seit 2004 regelmäßig in Berlin, manchmal auch in anderen Städten wie Rom, Kopenhagen, Barcelona und Sydney veranstaltet und bei dem die Teilnehmer sich in jeglicher Hinsicht sexuell ausprobieren können. Auf dem Programm stehen Workshops zu BDSM-Themen wie „Safe Single Tail Whipping“ oder „Being Bad“, aber auch „Tantrisches Speeddating“ und der „G-Spot des Mannes“. Legende ist Ruckerts „Schwelle 7“, ein Ort in Berlin-Wedding, den er als „irgendetwas zwischen Tanzstudio, BDSM-Klub und Kommune“ beschreibt. 2016 wurde der Raum gekündigt, seither war er auf der Suche nach einem neuen Platz für Experimente.

Fündig wurde er auf dem Holzmarkt in Mitte, einem Genossenschaftsprojekt direkt an der Spree. Dort residiert seit Oktober 2020 das „Institut für Körperforschung und sexuelle Kultur“, kurz IKSK. Ebenda soll nun über Sexuelles philosophiert, geforscht und weitergebildet werden. Und geschwitzt: Auf dem Stundenplan stehen Körpererfahrungen wie Tanz- und Fitnessklassen sowie Orgasmic Yoga und Bondage Jams. Weil Corona pünktlich zum Start auch das das gemeinnützig organisierte Institut plagt, hat Ruckert immerhin ausgiebig Zeit für einen BDSM-Crashkurs in Interviewform. Machen wir es uns halbwegs virussafe über Eck auf dem großen, weißen Sofa gemütlich.

Brenda Strohmaier: Der amerikanische Sexkolumnist Dan Savage hat gesagt, BDSM sei wie Räuber und Gendarm für Erwachsene. Nur sei man untenrum nackt. Wie definieren Sie es?

Felix Ruckert: Auf jeden Fall als Spiel. Nackt muss nicht sein. Es kann auch eine Art von Theater sein, eine Inszenierung. Es kann therapeutisch sein oder meditativ, oder einfach ein Vergnügen. Das Faszinierende an BDSM ist ja, dass es ganz unterschiedliche Facetten hat.

BDSM steht für „Bondage & Disziplin, Dominanz & Submission, Sadismus & Masochismus“. Wann wurde SM zu diesem Bandwurm?

Das ist im amerikanischen Sprachraum, genauer in Kalifornien, schon in den 1970er und 80er-Jahren passiert. Dort erweiterte man SM um BD, um die Bondage- und Disziplin-Leute mit zu meinen. Ich verwende den Begriff BDSM kaum noch, weil ich ihn immer noch zu eng finde. Ich spreche lieber von kreativer Sexualität oder nicht-normativer Sexualität. Ich glaube wirklich, dass es für jedes Individuum eine eigene Form von Sexualität gibt.

Wie verwenden Sie kink?

Im Grunde meint es das gleiche wie BDSM, ist nur ein bisschen offener. Wobei ich eben gegen jegliche Schubladen bin. Ich finde auch viele Leute kinky, die sich selbst für normal halten. Zum Beispiel Menschen, die heiraten. Eine Hochzeit ist auch ein Riesenritual und für viele sogar ein Fetisch, also etwas, das sie inspiriert, sie anregt. Der Mensch hat schon immer um die Sexualität herum seltsame Rituale kreiert, wie die Beschneidung. Die hat vielleicht früher mal medizinisch Sinn gemacht, aber heute? Warum machen die Leute das ganze Bohei um die Sexualität?

Ja, warum? Dieser Tage scheint Blümchensex nicht mehr zu genügen. Ich höre von Sexualtherapeuten, dass Klient*innen ständig wissen wollen, ob sie nicht auch mal BDSM ausprobieren müssten.

Bis vor kurzem war Sexualität sehr unterdrückt und beschränkt auf bestimmte Kontexte, sie war privat und geheim. Deswegen ist es kein Wunder, dass wir nicht viel wissen über das, was Leute privat tun. Außerdem gibt es auch eine idealisierte Darstellung von Sexualität in Literatur und Film. Die Leute haben eine entsprechend verengte Vorstellung, wie Sexualität auszusehen hat.

Weshalb heute Menschen glauben, Sie müssten „Shades of Grey“ nachinszenieren?

Auf jeden Fall hat der Erfolg der Geschichte gezeigt, dass BDSM kompatibel mit dem Mainstream wird, wenn man das Thema nur ein bisschen romantisch aufbereitet. Da steht eine heteronormative Beziehung zwischen Mann und Frau im Mittelpunkt, und dann passen auch Fesselspiele rein. Ich sehe die Entstehung von BDSM aber eher in Zusammenhang mit Emanzipation und Liberalisierung. Die BDSM-Szene gibt es nur in Ländern, in denen relativ lange Frieden herrscht, eine Emanzipation der Frauen stattgefunden hat und sich die homosexuelle Szene emanzipiert hat.

Es gibt ja angeblich deutlich mehr submissive Frauen als dominante. Warum lässt sich die frisch emanzipierte Frauen so gerne vermöbeln?

Im Grunde ist es gleichgültig, ob ich mich entscheide, submissiv oder dominant zu sein. Das Entscheidende ist, dass ich meinen Körper in Besitz nehme. Das ist nicht selbstverständlich. Bis vor wenigen Jahren haben die Körper der Frauen den Männern gehört, und die Körper der Männer den reichen, mächtigen Männern. Die Idee, dass wir mit unserem Körper machen können, was wir wollen, ist relativ neu. Klar, dass die Leute anfangen zu experimentieren. Wenn ich mich gut und stark fühle, während ich auf dem Boden krieche und den Speichel von jemand anderen lecke, dann ist das doch okay!

Ich verstehe trotzdem noch nicht, warum genau es geil ist, Speichel zu lecken, sich fesseln zu lassen und/oder Schmerzen zu empfinden?

SM-Praktiken zielen darauf ab, in einer kontrollierten Weise negative Emotionen zu erzeugen und sie zur erotisieren, sie in etwas Positives zu verwandeln. Emotionen und Empfindungen die im Alltag als negativ wahrgenommen werden, können im sexuellen Spiel plötzlich als lustvoll empfunden werden können. Man denke nur mal an die Intensität von Versöhnungssex nach einem Streit, an Eifersucht, an Wiedersehens-freude oder Verlustangst. Viele Form intensiver Gefühle können das Verlangen steigern. Schmerz, Angst, Wut – all diese Gefühle haben im Spiel Platz. Zu dem Schmerz gehört dann auch die Lust, zu der Angst das Vertrauen, zu der Trauer die Freude und so weiter. Das ist das große Verdienst von BDSM. Es bietet Formate wie Dominanz-Submission- Spiele oder Schmerz-Lust-Szenarien, die ganz viel Spielraum lassen für maßgeschneiderte, individuelle Inszenierungen grosser Gefühle.

Das Klischee ist eher: „Da wird jemand ausgepeitscht, und das erregt diesen Menschen sexuell.“

Es trifft nur auf vielleicht fünf Prozent von Masochisten zu, dass sie durch reinen Schmerz erregt werden. Für die große Mehrheit der SM-Praktizierenden ist es immer die Kombination von angenehmer und unangenehmer Berührung und vor allem der Kontext. Jeder, der in die Sauna geht, weiß, dass nach der Hitze eine kalte Dusche toll ist. Wenn ich jemanden sanft behandele und streichle und plötzlich wird der Griff härter, geht in den Schmerz hinein, macht es plötzlich sehr viel mehr Spaß, weil es ein viel intensiveres Erleben wird. Wenn ich dann wieder zurückzugehe in das Sanfte, wird das Sanfte noch sanfter.

Es geht also um den Kontrast?

Genau, um den Kontrast und die Bandbreite. Zudem ist Schmerz etwas extrem Relatives. Auch ein Marathonläufer geht erst einmal über seine Schmerzgrenze, und der Körper reagiert dann mit einer Hormonausschüttung, Adrenalin, Endorphine und so weiter, das so genannte „Runners High“. Der Körper dopt sich selbst durch Schmerzimpakt. Bei Aktivitäten wie Bungee Jumping oder Drachenfliegen wieder geht es um die Überwindung von Angst. Der gewünschte Effekt ist der gleiche, mein Körper produziert körpereigene Stoffe, die mir ein Glücksgefühl verschaffen. BDSM ermöglicht das in einer viel ungefährlicheren Variante als Bungee Jumping oder Extrembergsteigen. Nur weil BDSM die Sexualität mit reinbringt, wird dieser körpereigene Rausch auf einmal als etwas Gefährliches oder Unmoralisches empfunden.

Aber warum genau ist das erotisch?

Gemeinsam erlebte, intensive Gefühle erzeugen Intimität. Es geht um Präsenz und um Lebendigkeit. (Wenn ich mir einen kontrollierten Schlag zuführe, dann ist da sofort eine physische Reaktion. Die Zellen sind zusammengepresst, das Blut entweicht, kommt wieder zurück. Kannst du weglassen!) Gefahr, Schmerz, Scham usw. erzeugen einen Zustand von Wachheit und Intensität. Und das kann als lustvoll empfunden werden.

Sie sind Experte für Bondage, können elegant fesseln. Wie wird man das?

Ich war in den 1990ern in Japan als Choreograf unterwegs. Und da sah ich spezielle Magazine, wie es sie in Europa noch nicht gab. Ich fing an, die Bilder nachzufesseln. Ein bisschen später, Anfang der Nullerjahre, kam das langsam nach Europa. Dann habe ich die Schwelle 7 eröffnet und systematisch angefangen, japanische Fesselexperten nach Europa einzuladen.

Klingt, als hätten Sie die Schwelle 7 ins Leben gerufen, um in Ruhe fesseln zu können.

Ich hab die „Schwelle“ gegründet, weil ich eine eigene Tanz-Company hatte und viele meiner Projekte nicht mehr in einen normalen Theaterkontext passten. Ich hatte schon länger damit experimentiert, sexuelle Themen mit in die Kunst zu nehmen, den Körper zur Bühne zu machen. Diese Projekte hatten so einen Erfolg, dass ich gefühlt habe, dass ich da etwas anrühre, das weit über Tanz hinausgeht. Und so haben sich meine Veranstaltungen verändert, weg vom klassischen Bühnenprogramm hin zu mehr partizipativen Formaten.

Nochmal zum Fesseln. Können Sie die Faszination erklären?

Fesseln ist sicher einer der beliebtesten Fetische. 90 Prozent der Leute, die mit Kink anfangen, steigen mit Fesseln ein. Wahrscheinlich, weil es so klar eine Hierarchie einführt. Ich bin gefesselt, dann bin ich der Passive, und ich fessle, dann bin ich der Aktive. Schon dieses klare Rollenbild kann für viele Leute aufregend aber zugleich auch versichernd wirken. Wenn ich mich hingebe und ausliefere, gebe ich Verantwortung für meine Sexualität ab. Das ist für viele eine Befreiung, weil man sonst in der Sexualität vielleicht etwas leisten, also performen muss. Außerdem hat gefesselt werden diesen physiologischen Aspekt des Gebundenseins. Ich kann nicht weg, ich bin hilflos. Da kommt wieder die Angst ins Spiel, Angst vor Kontrollverlust. Zugleich bin ich in dem Moment, in dem ich mich hingebe, auch gehalten. Das kann man als Beziehungsmetapher sehen: Da ist eine Kontrolle, die mir zugleich eine Freiheit erlaubt.

Und was ist für den Aktiven so attraktiv?
Der Fesselnde wiederum ist eingeladen, mit einem Körper zu spielen. Der Körper wird ihm überlassen und ist ausgeliefert, also scheinbar völlig verfügbar. Sein Lustgewinn des Dominanten ist, dass er die Kontrolle ausübt und damit die eigenen Ängste an eine Stellvertretung abgibt. Der Gefesselte macht, was der Fesselnde sich nicht traut.

Die meisten Leute haben viele Jahre lang BDSM Fantasien, bevor sie sich in der Praxis daran wagen. Was raten Sie Anfänger*innen?

Gerade der Bereich Bondage hat sich in den letzten 20 Jahren stark verbreitet in ganz Europa. Bundesweit betreiben das bestimmt 50.000 Leute ernsthaft. Was auch daran liegt, dass Fesseln einen ganz starken ästhetischen Aspekt besitzt, speziell japanisches Bondage. Inzwischen gibt es in jeder Kleinstadt irgendein Dojo, das Kurse anbietet.

Also soll man besser unter Aufsicht üben?

Fesseln ist jetzt keine Wissenschaft. Ich nehme ein Seil oder eine Krawatte oder ein Tuch und verhindere jemandes Bewegungsfähigkeit, das machen viele Leute ganz ohne Unterricht zuhause allein im Schlafzimmer. Wenn ich unterrichte, gebe ich den Leuten auch erstmal einfach ein Seil in die Hand und sagen: Freu dich dran, probier aus, was kommt. Du kannst auch einfach Bondage-Seil googeln und findest zig Angebote im Netz, dazu Online Kurse und alles andere Wissenswerte.

Für mich hört sich das jetzt nach Männerhobby an.

Tatsächlich war es anfangs so, dass hauptsächlich Männer auf der aktiven Seite waren und Frauen auf der passiven. Das hat vielleicht etwas damit zu tun, dass es Männern schwerer fällt, Kontrolle abzugeben. Und beim Fesseln gibt es eben auch diesen technischen, handwerklichen Aspekt, der ein Gefühl von Sicherheit schafft. Viele Frauen wiederum nehmen vielleicht anfangs eine passive Rolle ein, weil ihnen das von der Erziehung her leichter fällt. Aber oft merken sowohl die Frauen als auch die Männer schnell, dass es Spaß macht, die Seite zu wechseln. Gerade für Männer ist es eine große Entdeckung, mal nicht performen zu müssen.

Okay, Fesseln ist die Nummer eins der BDSM-Vorlieben, und dann?

Auf jeden Fall Impakt-Spiele, das heißt, alles, was mit Schlagen zu tun hat. Das kann mit Händen passieren oder allen möglichen Instrumenten, Stöcken Peitschen. Das klingt immer gleich so brutal, aber das sind alles Instrumente, die speziell für den menschlichen Körper entwickelt wurden, also nicht, um Schafe auf die Wiese zu treiben. Ganz im Gegenteil zu dem was man vermuten könnte, schmerzt es weniger mit einer guten Peitsche geschlagen zu werden als mit der bloßen Hand. Natürlich hat ein Instrument eine andere psychologische Wirkung als die Hand, es symbolisiert ja auch eine Waffe oder ein Bestrafungsmittel.

Es gibt eine Dokumentation über Sie mit dem Titel „Violently happy“. Darin zeigen Sie, wie zärtlich eine Peitsche sein kann.

Die meisten Peitschen sind aus Leder. Warum? Leder ist Haut, und die Peitsche ist im Grunde einer Verlängerung der Hand. Sie hat in der Regel einen Ledergriff, das gibt eine Verbindung von Körper zu Körper. Und: Ich habe nur fünf Finger, die Peitsche hat vielleicht 20 oder 50. Dadurch wird mein Impact auf 20 oder mehr Punkte verteilt, das fühlt sich ganz anders an. Es gibt übrigens auch ganz viele Menschen ind er Szene, die überhaupt nicht an physischer Erfahrung interessiert sind. Bei den Dominanz-Unterwerfungs-Leuten spielt sich alles im Kopf ab, da geht es darum, den Partner z. B. Aufgaben erfüllen zu lassen, bestimmte Sachen sagen oder machen zu lassen. Also da wird eher der Gehorsam bzw. das Machtgefühl erotisiert, Kontrolle bzw. Kontrollverlust oder auch Scham und Schuldgefühle

Mir hat mal ein Typ beim ersten Date befohlen, ich solle von den Nachbartischen die Salzstreuer einsammeln. Ich vermute, der wollte testen, ob ich auf solche Spiele Lust habe? Fand ich doof.

Klar, das ist ein Dominanz-Spiel. Wäre er ein guter Dominanter gewesen, hätte er Sie irgendwie besser motiviert, hätte er etwas verlangt, das Sie selbst interessant gefunden hätten Btu versuchen. Das ist die Kunst beim Dominieren, ein Gefühl dafür zu bekommen, was den Partner erregen könnte. Deswegen sage ich, dass BDSM ein Kommunikationsspiel ist. Es ist immer ein Geben und Nehmen, und deswegen bin ich von der heilsamen Wirkung überzeugt. Es erfordert und schult Einfühlungsvermögen und emotionale Intelligenz.

Ich habe schon öfter Sadisten oder Masochisten getroffen, die keine Lust mehr hatten auf ihre sexuellen Neigungen. Sie kennen sicher auch viele?

Nein, da fallen mir nur ganz wenige ein. Aber bestimmt gibt es Leute, die unter ihrem Fetisch leiden, etwa, weil sie sich selbst oder anderen damit Schaden zufügen. Ich denke zum Beispiel an Pädophile. Die Leute, die ich kenne, die anfangen, BDSM zu praktizieren, erleben das in erster Linie als eine Ermächtigung, fühlen sich in ihrer Kraft angekommen. Davon wollen sie nicht mehr weg. Als nächstes erfahren sie, dass sie mehrere Identitäten leben dürfen. Ein alter weißer Mann kann plötzlich ein kleines Mädchen sein oder eine junge Frau ein alter Sack. Wenn Menschen ihre Vielfältigkeit entdecken, bringt sie das in die Lage, mit sehr unterschiedlichen Leuten zu kommunizieren. Die neuen Leute, die in ihr Leben kommen, provozieren wiederum neue Reaktionen und neue Fetische. Typisch ist: Da lässt sich jemand zunächst selbst fesseln, nach zwei Jahren fängt er selbst an zu fesseln. Dann stellt derjenige fest, dass da jemand ist, den er sehr gern fesselt, aber gleichzeitig hat er noch einen weitere sexuelle Beziehung. Viele Leute sagen dann: Okay, warum kann ich das nicht beides haben? Spätestens dann löst sich die klassische Idee von Liebesziehung auf, die Sexualität und emotionale Nähe als untrennbare Einheit betrachtet.

In den wenigen Studien, die es über BDSM-Praktizierende gibt, heißt es, dass darunter überdurchschnittlich viele so genannte Sensation Seeker sind, Leute, die neue, aufregende Erfahrungen suchen.

Das stimmt. Und es gibt sehr viele Leute in der Szene, die beruflich mit dem Körper zu tun haben. Tänzer, Schauspieler, Masseure, Körpertherapeuten, Chirurgen. Die BDSM-Praktizierenden, die zu mir kommen, sind überdurchschnittlich bewusst, überdurchschnittlich gebildet, überdurchschnittlich einfühlsam und empathisch. Ich sehe viele Leute, die einen robusten, pragmatischen Umgang mit dem Körper pflegen.

Was kann ein Vanilla-Mensch, also jemand ohne Fetisch, von den sexuell Kreativen lernen?

Ich bin überrascht, wenn jemand sagt, er habe keinen Kink. Meist stimmt das gar nicht, wenn man genau hinguckt. Sie haben vielleicht eine Kette um den Hals, einen Ring am Finger, ein Tattoo auf dem Rücken, ein Messer in der Handtasche, alles Dinge, die man auch als Fetisch interpretieren könnte. Wie gesagt: Ein Fetisch heißt nur, dass da etwas ist, das mich anregt, das Glitzern in den Augen weckt. Das hat mir Lebendigkeit zu tun. Wir wollen nicht zu watteweich leben. Wir suchen immer nach irgendwelchen Objekten oder Bildern, die uns stimulieren.

…oder gründen ein Institut. Was haben Sie hier noch vor? Institut klingt sehr seriös.

Ich wollte schon mit der Schwelle 7 raus aus der Clubkultur. Mir geht es darum, dass Sexualität nicht nur der Rausch und die Nacht ist, sondern dazu auch Analyse und Reflexion stattfindet. Ich will die Wissenschaft und das breite Publikum hierher einladen. Das heißt, ich will einen Ort schaffen, wo sowohl geforscht wird als auch Erwachsenenbildung stattfindet. Gerade da gibt es einen Riesenbedarf: Wir haben einerseits eine Übersexualisierung, weil Sexualität ein Geschäft ist. Andererseits haben viele Leute nicht genug Sex, oder nicht den Sex, den sie haben wollen, insbesondere in einer Stadt wie Berlin mit diesen unzähligen Singles.

Auf Ihrem Programm stehen auch täglich mehrere Kurse, mal mit mehr oder weniger sexuellem Fokus, unter anderem Orgasmic Yoga. Was bitte ist das?

Das ist tatsächlich ein Yoga, bei dem man auch Orgasmen haben kann, wenn man das wünscht. Vom Yoga übernimmt es das Prinzip, dass man sich mit dem eigenen Körper meditativ beschäftigt. Andererseits gibt es keine Übungen vor, es eröffnet lediglich einen Erlaubnisraum. Es gibt Anleiterinnen, die das Konzept erklären. Und die sagen: Du guckst, was du jetzt brauchst. Das kann alles heißen, etwa, dass sich jemand eine halbe Stunde schlafen legt, aber auch, dass sich jemand selbst massiert oder masturbiert. Alles ist erlaubt, außer Interaktion. Das Kollektiv ist nur dazu da, die Recherche am eigenen Körper zu unterstützen.

Ich kenne inzwischen mehrere Leute, die als Hobby Sensual Playfight betreiben, also irgendwie erotischer Zweikampf. Sie bieten das auch an. Ist das eine neuer Berliner Trendsport?

Das ist inzwischen im Mainstream angekommen. Wir haben schon 2009 Playfight in der Schwelle 7 angeboten. Wir haben das damals mit Frank Taherkhani entwickelt, einem Philosophen und Kampfsportler, den ich in einem SM-Club kennengelernt habe und Sheila Crux, Atemtherapeutin und Extremsportlerin. Frank kam damals rein mit einer Frau, schnappte sie an den Haaren, zerrte sie zu Boden, sprang auf ihr rum. Es sah erschreckend realistisch aus, aber es war in einem BDSM-Kontext und deshalb ging ich davon aus, dass das konsensuell ist.

Klingt nach Wrestling.

Genauso hat das auf mich gewirkt, also brutal, aber kontrolliert. Dann habe ich Frank angesprochen und ihn gebeten, in der Schwelle einen Workshop dazu anzubieten. Und er begann, Übungen abgeleitet aus dem Kampfsport zu entwickeln, dazu, wie man mit gegenseitigem Lustgewinn miteinander rauft und kämpft. Und dann wurde das so ein Riesending, Playfight.

Ich muss wieder fragen: Was genau daran ist geil?

Das frag ich mich auch manchmal. Aber es findet dabei eine systemische Erregung statt, ähnlich wie beim Achterbahnfahren, die eben viele Leute toll finden. Dazu der Körperkontakt, die rohe Kraft, das Animalische. So entwickeln sich eben manche Sachen, das Sexuelle spielt zumindest bei den Play Fight Workshops keine große Rolle. Aber sicher machen die Leute zu Hause in ihrem Schlafzimmer weiter und dann wird es bestimmt auch sexuell.

Der BDSMer ist, wenn ich das richtig verstehe, recht stolz darauf, dass der penetrative Aspekt beim Spielen meist nicht wichtig ist.

Die nennen das Gourmet Sex. Der simple sexuelle Akt hat sicher seine Berechtigung, aber er ist sehr überhöht in unserer Kultur. Was vielleicht einen Mangel an Fantasie zeigt, aber sicher noch damit zu tun hat, dass er eben auch der Fortpflanzung dient, also existenziell notwendig ist. Jedenfalls finde ich es toll, wenn sexuelle Praktiken sich transformieren. Viele fangen mit Bondage als sexuelle Spielart an und wollen dann irgendwann vor allem Fotos davon machen oder Performances dazu. Und so wird es zu einer Kunstform.

Auch das Institut wurde zum Start von Corona erwischt. Wie lange halten Sie durch?

Das ist natürlich eine Katastrophe, aber ein paar Monate schaffen wir noch. Ich hoffe, dass die Politik anerkennt, was die sexuelle Subkultur in Berlin leistet. Sie ist ja ein wesentlicher Teil der Anziehungskraft dieser Stadt, wie Wowereit damals sagte: arm, aber sexy. Ich finde, diese Kultur sollte auch von der Politik unterstützt werden. In den 20er-Jahren gab es schon mal ein halbprivates Institut für sexuelle Forschung von Magnus Hirschfeld, daran wollen wir anknüpfen.

Wenn wir über Wowereit sprechen: Wann sagt der erste Politiker: „Ich bin kinky, und das ist gut so“?

Sie meinen, dass einer sagt: „Okay, ich lass mich am Wochenende gern von meiner Frau auspeitschen?“ So weit sind wir doch noch nicht, obwohl es den garantiert gibt.