Was ist sexuelle Kultur? 6/2023

picture by Isabel de Sena

Interview mit Jacqueline Lange/ Universitäre Feldforschung zum IKSK, 22. Juni 2023

Kurze Vorstellung
Ich bin Felix Ruckert; Tänzer, Choreograf, sowie Kurator und Organisator von sexpositiven Festivals und sexpositiven Räumen. Das IKSK – Institut für Körperforschung und sexuelle Kultur – in Berlin begleite ich seit 2020 als künstlerischer Leiter.

1. Was ist für dich sexuelle Kultur?
Sexuelle Kultur ist eine Utopie, der Wunsch, dass Sexualität als individuelles als auch gesellschaftliches Phänomen mehr Beachtung erfährt; dass die unterschiedlichen Formen der Sexualität kultiviert und gefeiert werden,  das Verbindungen geschafft  werden zu Philosophie und zur Kunst; dass Sexualität als Kulturtechnik gesehen wird und nicht nur als Privatsache, dass sie aus dem Kontext von Intimität und privater Begegnung herausgelöst wird und auch als sozialer kollektiver Erfahrungsraum existieren kann.

2. Wie glaubst du kann man sexuelle Kultur lernen?
Es geht darum Sexualität zu erforschen, zuerst die eigene, als ganz persönliche Bereicherung und Ausdrucksform, als Recht auf Ekstase und körperliches Wohlbefinden. Darüberhinaus die Perspektive der Anderen: Sexualität in ihren unterschiedlichen Formen und Ausprägungen, das Anerkennen und Erfahren sexueller Kreativität und Diversität und auch Sexualität als soziale Praxis, was auch dieBeschäftigung mit Subkulturen und Praktiken wie Kink, Fetisch, BDSM, Tantra, Queere Sexualität etc umfasst.

3. Was hat der Körper für dich mit sexueller Kultur zu tun?
Gerade in der Sexualität lässt sich der Körper schlecht vom Verstand oder dem Gefühl trennen. Körperempfinden, Emotionen und Gedanken sind untrennbar ineinander verwoben. Eine sexuelle Kultur macht sich Gedanken über diese Verbindungen und forscht sowohl auf der körperpraktischen Ebene (sexuelle Erziehung, sexuelle und sinnliche Techniken, Körperarbeit) als auch auf der emotionalen Ebene (Liebe, Beziehung, Angst und Verlangen) und fördert zugleich die Ebene der Reflexion (Kunst und Philosophie von Liebe und Leidenschaft).

4. Körperempfinden und sexuelle Kultur – in welchem Verhältnis stehen die beiden Attribute für dich?
Sexuelle Kultur hat mit Bewusstsein zu tun, Bewusstsein wiederum mit Wahrnehmung, also der Schulung der verschiedenen Sinne, dem “Begreifen”. Sexualität ist ja viel mehr als genitale Interaktion oder der Akt von Penetration, Sexualität fängt viel früher an, mit Nähe und Distanz im sozialen Raum, mit Kontakt und Berührung in jedem Sinne. Daher ist einer der ersten Schritte zu einer sexuellen Kultur die Erfahrung des Körpers in Zeit und Raum, die Interaktion zwischen körperlichem Empfinden und der aktiven Manipulation vom Zeit und Raum, erfahrbar in Praktiken wie Tanz, Massage und Meditation aber auch neueren Techniken wie Japanischer Seilbondage zum Beispiel.

5. Warum glaubst du, dass es wichtig ist, sich seiner sexuellen Kultur anzunehmen?
Sexualität ist ein wichtiger Teil der menschlichen Existenz. Es fängt an bei der Geburt wo Dir ein Geschlecht zugeteilt was starke Auswirkungen darauf hat wie dein weiteres Leben verläuft und wie mit dir umgegangen wird. Deine sexuellen Erfahrungen prägen deine Persönlichkeit. Es gibt aber viele diverse Sexualitäten. Diversität in der Geschlechtlichkeit zu anzuerkennen ist somit Teil der Persönlichkeitsentwicklung. Historisch gesehen war das Sexuelle in den letzten Jahrtausenden stark reguliert (Religion, Patriarchat, unterschiedliche Kulturen). Von Hollywood und Pornographie wird Sexualität immer noch weitgehend stereotypisch dargestellt, die in Werbung und populärer Kultur vorherrschenden diskriminierenden Körperbilder werden erst seit Kurzem hinterfragt
Die Idee dass der Körper und damit die Sexualität uns selbst gehören, ist historisch betrachtet also relativ neu, unser sexuelles Verhalten ist nach wie vor sehr stark von sozialer und kultureller Konditionierung beeinflusst und oft von negativen Gefühlen wie Angst und Scham begleitet. Wir wissen noch garnicht welches kreative sexuelle Potential wirklich in uns steckt.

Ein wichtiger weiterer Aspekt ist das sozialen Zusammenleben, da sowohl Kommunikation als auch Konflikte oft mit Sexualität zusammenhängen. Ich denke da an sexuelle Gewalt, Missbrauch, Geschlechterungerechtigkeit, Konsum, Kriege und Konflikte. Eine progressive und offene Gesellschaft sollte sich die Verbesserung der sexuellen Kultur als erstrebenswertes Anliegen zu eigen machen. Sexualität hat viel mit persönlichen Wohlbefinden zu tun, aber auch mit sozialer Kommunikation und Prinzipien wie Konsens und Kollaboration: Dies sind wichtige Aspekte im friedlichen Zusammenleben. Zudem ist es wichtig, Sexualität als Kulturform zu begreifen als gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Wenn Familienpolitik gibt, sollte es auch eine Sexualpolitik geben.

Es gibt ja schon eine sexuelle Kultur die vom Markt, von der enormen Nachfrage geschaffen wurde und die sich als riesige Industrie etabliert hat, als Körperoptimierungsindustrie, als pornographische Industrie, als Sexarbeit. Dazu sollte es nicht-kommerzielle Alternativen geben.

6. Wie hast du deine sexuelle Kultur für dich definiert?
Mein Background liegt im Tanz und Theater und Tanz ist eine kulturelle Praktik. Ich habe Prinzipien und Wissen aus dem Tanz auf die Sexualität angewendet. Mein spezieller Beitrag ist, dass ich nach Schnittstellen gesucht habe zwischen sexueller und tänzerischer Aktivität. Beides sind kreative, körperliche und irgendwie auch sinnfreie Aktivitäten, sie dienen vor allem der Freude, der Feier und sie entziehen sich der Logik der Vermarktung.

7. Wie erlebst du sexuelle Kultur im IKSK?
Es gibt Körperpraktiken (dabei geht es um Wahrnehmung), sexuelle Praktiken (sexuelle Erziehung, Kommunikation und Konsens), kreative Praktiken (Bondage, BDSM). Außerdem zählt auch das Hinterfragen von Geschlechter-Stereotypen (queere Ansätze, Fluidität von Geschlecht) zu den Hauptanliegen.

8. Wie wird sexuelle Kultur im IKSK versucht zu vermitteln?
Durch stark strukturierte Sachen (Workshops und Klassen) und weniger strukturierte Erfahrungsräume (Freiräume um sexuelle Kultur zu erfahren, z.B. in Form von Ritualen oder Festen). Zur Selbstermächtigung gehört auch das Hinterfragen hierarchischer Meister- Schüler Verhältnisse und das Treffen eigener Entscheidung. Wir versuchen ganz stark Eigenverantwortlichkeit zu fördern und zu verlangen. Wir bieten keine Heilung oder Therapie, sondern öffnen lediglich Erfahrungs und Lernmöglichkeiten für erwachsene, selbstverantwortliche Menschen jeder sexuellen Identität und Orientierung. Wir sagen ganz klar, dass mit den Teilnahme an von uns angebotenen Formaten auch gewisse körperliche und emotionale Risiken verbunden sein können.

9. Welche Auswirkungen hat eine ausgeprägte sexuelle Kultur auf die Gesellschaft?
Ich denke, eine wirklich etablierte und zugängliche sexuelle Kultur hat Auswirkungen auf Beziehungen, sie kann Konfliktpotenzial rausnehmen aus Paarbeziehungen, aus persönlichen Liebesbeziehungen, und sie kann auch die Beziehungen in Gruppen fördern, im Sinne offenerer Kommunikation, der Fähigkeit Menschlichkeit zu zeigen, Verletztlichkeit zuzulassen, Empathie zu üben. Auf dem nächstem Level kann sexuelle Kultur dazu führen, dass Menschen freier, offener, bewusster liebevoller und präziser miteinander umgehen, wodurch sexuelle Gewalt – sowie auch Missverständnisse, mangelnde Aufmerksamkeit, fehlende Empathie, schlechte Kommunikation weniger wahrscheinlich werden. Auch Gesundheitsfragen wie z.B. sexuell übertragbare Krankheiten werden in einer sexuellen Kultur ganz selbstverständlich angesprochen und sorgen so für weniger Leid.

Sexuelle Kultur ist meiner Meinung nach ein Gegenmittel gegen Hass, Missbrauch, Übergriffe, sexuelle Belästigung und ein Schritt hin zu einer mitfühlenden, menschlicheren Gesellschaft. Dies erlebe ich tagtäglich in den von mir gestalteten Räumen und auf meinen Festivals. Unsere sexuelle Ausdrucksfähigkeit sollte gefördert und gefeiert werden.